(Lesedauer etwa 8 Minuten)
-Das Richtige-

Mein Mund war wie ausgetrocknet. Ich nahm das Zittern meiner Hände, nein meines ganzen Körpers, wahr. Wie eine Motte, angezogen vom Licht, wandelte ich zurück in den Regen. Meine Socken sogen sich sofort voll Wasser, meine Füße waren eiskalt. Doch das alles spürte ich nicht.
Alles, was ich registrierte, war die dunkle Gestalt, auf die ich ungläubig zuging. Er bewegte sich ebenfalls auf mich zu und noch bevor ich sein Gesicht im Dunkeln erkannte, wusste ich, er war es. Wie war er ins Diesseits gekommen? Das war für Verbannte unmöglich.
Ethan.
Dicht vor mir blieb er stehen und sah mich einfach nur an. Ich wusste nicht, ob ich ihm in die Arme fallen oder ihn ohrfeigen sollte.
»Wie bist du hergekommen?«, fragte ich angespannt.
»Fabri war mir noch was schuldig«, erklärte er knapp.
Natürlich. Ich hätte es wissen müssen.
»Ich wusste, auf Dominik ist Verlass«, lächelte Ethan nun.
»Du hast in Kauf genommen, dass ich bei dem Sturz sterben könnte«, warf ich ihm halbherzig vor.
»Hätte er dich nicht aufgefangen, hätte ich vier Mal zurückkommen können, um dich zu retten.«
»Hättest du?«
»Definitiv.«
Er hob die Hand und obwohl ich zurückzuckte, legte er sie auf meine Wange. Seine Berührung elektrisierte mich. Mein Atem ging umgehend schneller, alles um mich herum verschwand. Es gab nur noch ihn und mich.
»Ich wollte eigentlich weg sein, bevor du mich hier siehst«, sprach er.
»Ich wollte dich töten, sollten wir uns noch einmal sehen«, erzählte ich ihm.
»Da haben wir wohl beide versagt«, stellte er fest ohne den Blick von mir zu wenden.
Sein Daumen strich an der Linie meiner Unterlippe entlang. Mit weichen Knien und einem gehörigen Kribbeln im Bauch schloss ich für einen Moment die Augen und versuchte, meinen Atem zu beruhigen.
Ich spürte, dass er sich zu mir herunterbeugte. Als ich die Augen öffnete, waren seine Lippen den meinen so nahe, dass ich sie beinahe fühlte. Fragend sah er mich an. Ich rührte mich nicht. Musste ich jetzt entscheiden, ob ich es zulassen wollte oder nicht? Dazu war ich nicht fähig. Mein Verstand befand sich in irgendeiner anderen Sphäre. Es gab nur meinen Körper, der darauf drängte, ihm nahe zu sein.
Doch plötzlich blinzelte er knapp, als hätte er sich selbst zur Besinnung gerufen und hob sein Gesicht. Seine Hand zog sich von mir zurück und hinterließ eine schmerzhafte Leere.
»Ethan, ich…«, begann ich und hielt inne.
Ich wollte ihm sagen, dass ich bedauerte, mit ihm um das Drachenei gekämpft zu haben. Denn ich wusste, aus irgendeinem Grund benötigte er es genauso dringend wie ich. Es steckte mehr hinter seinem Wunsch, das Sonnenlicht zu besiegen, denn für ihn spielte die Sonne keine Rolle mehr. Er hatte die Fledermäuse.
Vielleicht würde ich es eines Tages erfahren.
»Ja, vielleicht wirst du es eines Tages erfahren«, nickte er, »bis dahin bin ich einfach der bad guy.«
Er las meine Gedanken, obwohl ich meine Aura blockierte.
»Wie ist das möglich?«, fragte ich.
»Einer meiner Taschenspielertricks«, lächelte er.
»Die anderen Vampire können das nicht«, wusste ich.
»Die sind nicht wie ich…«, meinte er, hielt dann aber mitten im Satz inne und sah mich bedauernd an.
Das sollte wohl eines seiner Geheimnisse bleiben. Ich konnte es ihm nicht verübeln, dass er mir nicht mehr vertraute.
»Es tut mir leid«, flüsterte ich aufrichtig.
Er nickte: »Mir tut es auch leid.«
Seine tiefblauen Augen wirkten so wahrhaftig, wie nie. Ich konnte nicht an mich halten und fiel ihm in die Arme. Ich spürte sein Zurückweichen, er hielt mich nicht fest.
»Du wirst mich wieder verlassen, oder?«, ahnte ich.
Sofort stiegen mir Tränen in die Augen. Ich spürte sein lautloses Seufzen. Endlich zog er mich an sich und hielt mich fest.
»Das muss ich. Aber denk nie wieder, du hättest mir nichts bedeutet. Alles, was ich tue, dreht sich um dich. Ich hinterfrage jede meiner Machenschaften, seit wir uns begegnet sind. Und ich weiß genau, ich bin nicht gut für dich. Ich bin nicht im Entferntesten das, was du verdienst.«
»Was, wenn du genau das bist, was ich will?« Es fiel mir schwer, seinen Lippen zu widerstehen.
»Du kennst mich zu wenig. Du glaubst, du weißt etwas, weil du meinen Keller gesehen hast? Da ist noch so viel mehr, Gwendoline. Das ist nicht das Leben, in das du verwickelt sein solltest.« Er löste unsere Umarmung und lächelte wehmütig.
»Warum wollen mir immer alle erzählen, welches Leben ich führen sollte?« Betrübt wich ich seinem Blick aus.
Ethan drückte mein Kinn mit dem Zeigefinger hoch, so dass ich gezwungen war ihn anzusehen.
»Bald wirst du wieder in der Lage sein vernünftige Entscheidungen zu treffen. Bis dahin versuchen wir alle nur, dir zu helfen. Und ich versuche, das Richtige zu tun.« Er lächelte gequält.
Der Gedanke wieder ohne ihn zu sein, quälte mich mehr, als ich es mir zuvor eingestehen wollte.
»Hast du es gefunden?«, fragte ich ihn traurig.
Verwundert sah er mich an. Bevor ich meine Vermutung aussprach, las er sie in meinen Gedanken. Der einzige Grund, weshalb wir so dringend hinter der gleichen Sache her waren, lag für mich auf der Hand. Auch wenn ich es erst spät erkannt hatte.
Er suchte ein Heilmittel für seine Schwester.
Er schüttelte den Kopf. »Anna erleidet seit dem Tag ihrer Verwandlung körperliche Schmerzen. Ohne Blut überlebt sie nicht. Doch das Trinken von Blut verschlimmert kurzweilig ihren Zustand. Ich habe schon alle Blutgruppen versucht. Jungfrauenblut, Lichtbringerblut, Orakel…«
Er seufzte und rang nach Fassung.
Das klang schrecklich und erklärte ihre miese Stimmung, wann immer ich ihr begegnete.
Ethans Mimik spiegelte seine Verzweiflung wieder. So verletzlich hatte er sich mir gegenüber nie zuvor gezeigt. »Es ist meine Schuld, Gwen. Ich habe ihr das angetan. Kannst du dir vorstellen, wie das ist, wenn du tagein, tagaus an Schmerzen leidest, die niemand zu stillen vermag? Seit beinahe 400 Jahren?« Er sah mich mit geblähten Nasenflügeln an, biss die Zähne aufeinander, als würde er dadurch Tränen zurückhalten.
»Nein«, hauchte ich erschrocken.
»Es ist die Hölle auf Erden und ich bin dafür verantwortlich. Weil ich ihren Tod nicht akzeptieren wollte, habe ich sie stattdessen zur ewigen Verdammnis gezwungen.«
»Was ist bei ihrer Verwandlung schiefgelaufen?«, erkundigte ich mich.
»Gar nichts. Ich vermute, ihr wurde ein Fluch auferlegt, als die Hexenjäger sie unschuldig brandmarkten.«
Das erklärte das ominös leuchtende Brandmal an ihrem Körper.
»Wie kann man den Fluch brechen?«, fragte ich, doch im gleichen Moment war mir die Antwort klar.
Das Drachenei. Doch irgendetwas schien nicht funktioniert zu haben, sonst hätte er sie längst erlöst.
»Ich bin noch dabei, es herauszufinden.« Er lächelte tapfer und machte Anstalten sich von mir zu entfernen.
»Ich will nicht, dass du gehst«, beteuerte ich hastig.
»Ich habe dir zum Austausch etwas mitgebracht, für das ich keine Verwendung habe«, sagte er mit beruhigender Stimme.
»Was könnte dich schon ersetzen?«, beschwerte ich mich.
Er trat einen Schritt näher und küsste meine Stirn: »Du wirst es lieben, mehr als mich.«
Ich sah zu ihm auf und lächelte ungläubig. Er sah mir in die Augen, gerade weit genug entfernt, dass ich sie klar erkennen konnte. Seine Nähe löste erneutes Herzrasen in mir aus, doch bevor ich darin vergehen konnte, schaffte er wieder eine angemessene Distanz zwischen uns.
»Ich war bereit, über Leichen zu gehen. Bereit alle zu täuschen, um das zu bekommen, was ich wollte. Dank dir hab ich es zwar aus der Stadt geschafft, bevor die Versiegelung durchgeführt war, aber nun stehe ich wieder mit leeren Händen da. Und glaub ja nicht, es liegt daran, dass ich so gütig bin.«
»Was meinst du? Du hast uns doch die Attrappe untergejubelt und hast dein Drachenei bekommen.« Ich wollte ihm daraus nicht mal einen Vorwurf machen. Ich wusste nur nicht, worauf er hinauswollte.
»Fabri hat es unbrauchbar gemacht für mich bei dem Ritual. Ist mir nur etwas spät aufgefallen. Ich war richtig sauer. Auf ihn, auf dich, auf die Lichtbringer, auf die Drachen. Einfach auf alle. Du schuldest mir was, Gwendoline. Du schuldest mir was.« Er schnaubte, als hätte er sich soeben selbst in Rage geredet.
»Ich versteh nicht…« Verwundert über seinen Sinneswandel sah ich ihn an.
»Pass auf dich auf«, meinte er und trat noch einen Schritt zurück von mir.
»Du auch«, antwortete ich schnell.
Er schoss in übernatürlicher Geschwindigkeit in den Nachthimmel hinauf und nicht mal eine Sekunde später war es, als wäre er nie dagewesen.
Ich legte den Kopf in den Nacken und ließ den herabfallenden Regen meine Tränen wegspülen. Ich wusste, Ethan hatte Recht. Wir sollten nicht zusammensein. Auch, wenn wir es beide wollten.
Frierend kehrte ich ins Haus zurück. Hermann beobachtete, wie ich neben dem Eingang meine Socken auszog und das klitschnasse Paar dort liegen ließ.
Wie ein Mahnmal stand Ethans Paket auf dem Sideboard.
Er hatte doch nicht etwa?
Ich rannte in die Küche, wühlte in der Schublade nach der Schere und konnte sie nicht finden. Als Ersatz schnappte ich mir das kleine Schälmesser und lief wieder zurück. Hermann folgte mir auf Schritt und Tritt, dieser neugierige Idiot. Ich atmete tief durch und schnitt dann das Paketklebeband an den Seiten auf.
»Bitte, bitte, bitte….«, flüsterte ich angespannt, als ich mit zitternden Händen den Karton öffnete.
In einem Nest aus Papierwolle lag das grüne Drachenei. Das Echte.
Der rote Streifen hatte sich von der Mitte bis zur Spitze ausgebreitet, schien zu pulsieren, während es von einem ominösen blauen Nebel umgeben war. Es erinnerte mich an die Aura der Vampire.
Ethan hatte mir das Drachenei zurückgegeben! Fassungslos starrte ich es an. Wie Magma aus einem Vulkan brach die Liebe aus meinem Herzen und erfüllte mich durch und durch.
Er hatte es mir zurückgegeben. Er hätte es vernichten können in seiner Wut, aber er gab es mir.
Ich wusste, warum es unbrauchbar für ihn geworden war. Ehrfürchtig legte ich die Hand darauf und mein Verdacht bestätigte sich. Die blaue Aura des Eies schlängelte sich in dünnen Fäden um meine Finger und das Handgelenk und manifestierte sich schließlich zu einem Nebel, der sich bis auf den Unterarm ausbreitete. Er war warm und vertraut. Die schuppige Schicht des Dracheneies war erhitzt und vibrierte sachte unter meiner Berührung. Ich spürte die Bewegung des Drachen darin. Godrics Bewegung.
Ich wusste nicht, wie das möglich war, aber er war es!
»Hallo Bruder«, flüsterte ich unter Tränen.
Hektisch riss ich mein Handy aus der Hosentasche und hatte Mühe, den Touchscreen mit meinen nassen Fingern zu bedienen. Endlich klingelte es bei Draca.
Nach kurzem Warten, was mir wie eine Ewigkeit vorkam, ging er ran: »Schwesterherz?«
»Das wirst du mir nie glauben!«, platzte es aus mir heraus.
Drei Monate später
Langsam stapfte ich neben Hayley und Draca über die schneebedeckte Wiese und sah mich vorsichtshalber um. Hier draußen auf den Feldern, weit weg von den Wegen der Spaziergänger, kam selten jemand vorbei. Ich knöpfte den Mantel auf und der kleine Drache kletterte hinaus, stieg meinen Arm hoch und setzte sich auf meine Schulter. Seine eisblauen Augen musterten die Umgebung.
»Da vorne muss es irgendwo sein«, sagte ich zu ihm und deutete auf die verschneite Tannenreihe vor uns.
›Ich check mal die Lage, bevor ich bei deinem Schneckentempo noch in den Winterschlaf falle‹, erwiderte Godric mental und stieß sich von meiner Schulter ab.
»Kann sich ja nicht jeder im Flug oder übernatürlicher Geschwindigkeit fortbewegen«, mopperte ich lachend.
Sein junger Drachenkörper, kaum größer als ein Chihuahua flog über die Felder hinweg.
Hermann rannte in die gleiche Richtung, folgte ihm offenbar, konnte aber nicht mit ihm mithalten, da er immer wieder stehenblieb und sich nach uns umsah.
Hayley nahm meine Hand und lächelte mich ermutigend an: »Ich hoffe, das Orakel kann ihm helfen und ihm seine menschliche Gestalt zurückgeben.«
»Ich finde meinen Vampirdrachenbruder eigentlich ganz cool in seiner neuen Gestalt«, grinste Draca.
›Nichts gegen Drachen, aber ich wäre gern wieder ich selbst. Wer soll denn sonst aufpassen, dass Gwen keine Scheiße baut?‹ Godrics hellblaue Vampiraura flatterte im Wind, während er sich weiter von uns entfernte.
»Das haben wir doch ganz gut hingekriegt, während du mit Abwesenheit geglänzt hast«, neckte Draca ihn.
›Hier ist eine Hütte‹, informierte Godric uns.
Wir liefen alle etwas schneller. Die eiskalte Luft biss beim Inhalieren wie tausend Nadelstiche. Der Schnee durchnässte meine Hose und ich konnte fast nicht mehr laufen. Und doch hatte ich mich schon lange nicht mehr so lebendig gefühlt wie in diesem Moment.
Egal, was mit Godric geschehen würde, ich war dankbar, ihn wiederzuhaben. Ich liebte ihn in jeder Gestalt. Das taten wir alle. Und er fühlte sich als Drache viel wohler, als er zugeben wollte.
Im Nachhinein betrachtet, hatte ich Ethan nichts als Ärger zu verdanken.
Dennoch hatte er mir wie versprochen einen guten Ersatz im Austausch für ihn überlassen.
Und diese eine Entscheidung, die er getroffen hatte, war das Richtige. So wie er gehofft hatte. Ich würde es ihm nie vergessen.
Keiner von uns würde es ihm vergessen.
Ende

Lies noch den Epilog
- Wie gefällt dir das Ende?
- Schreib es in die Kommentare!
- Beachte bitte, dass der Blog-Roman die Rohfassung und völlig unbearbeitete Version des Buches ist, Fehler kommen demnach garantiert vor
Werde eine:r von uns!
Schreibe dich für exklusive News bei der Fledermauspost ein, nimm dir ein EBook mit und verpasse keine Beiträge mehr!
Kommentar verfassen