Der Babysitter und der Clown: Urbane Legende (Kurzgeschichte)

(Lesezeit etwa 10 Minuten)

Jolinas Erzählung

Mir fällt es immer noch schwer darüber zu sprechen. Ich habe manchmal Alpträume davon, was in der Nacht vorgefallen ist. Es ist ein Wunder, dass ich überhaupt noch lebe. Aber ich fange mal ganz von vorne an.

Seit ich vierzehn war, habe ich mir mit Babysitten immer was zum Taschengeld dazu verdient. Außerdem liebe ich kleine Kinder einfach, ich konnte schon immer gut mit ihnen. Die Kids von den Meyers mag ich echt gerne. Außerdem wohnen sie gleich um die Ecke, ich habs also nicht weit bis nach Hause. Sie haben drei Kinder. Die Zwillinge Lily und Paul sind total süß, ich kenne sie schon seit ihrer Geburt, denn Frau Meyer und meine Mutter sind gut befreundet. Als ich angefangen habe auf sie aufzupassen, waren sie noch zwei Jahre jünger – mittlerweile sind sie fünf Jahre alt und die Meyers haben noch ein Geschwisterchen bekommen. Mit der acht Monate alten Tochter Luisa bin ich auch immer hervorragend zurecht gekommen. Bis an diesem Abend, als die Meyers zu einem Essen ausgingen. Sie wollten gegen Mitternacht zurück sein und Frau Meyer wollte mich danach mit dem Auto nach Hause fahren, damit ich nicht allein durch die Nacht laufen musste. Die kleine Luisa war den ganzen Abend gut drauf, ich habe sie noch gefüttert und wollte sie mit einem Liedchen in den Schlaf singen, während die Zwillinge im Wohnzimmer ein Puzzle bearbeiteten. Vorher hatte ich ihnen in der Küche Wassermelone in Würfel geschnitten und ihnen in die Fruchtstücke kleine Cocktailschirmchen gesteckt – sie liebten das.

Als ich mit dem Baby auf dem Arm das Kinderzimmer betrat, beschlich mich ein mulmiges Gefühl. Es herrschte eine ganz merkwürdige Atmosphäre, vielleicht war es auch mein siebter Sinn, der sich da gemeldet hat. Neben dem Gitterbett stand ein Sessel mit einem Hocker davor, in dem hatte ihre Mama immer gesessen, wenn sie Luisa gestillt hatte. Mittlerweile wurde sie nicht mehr gestillt und ein riesiges Stofftier bewachte meistens den Sessel. Lily hatte ihr diesen großen Elefanten zwar geschenkt, doch manchmal was sie eifersüchtig auf ihre kleine Schwester und stibizte das Stofftier aus dem Zimmer. Was jetzt allerdings von diesem Sessel aus ins Zimmer starrte, erschien mir sofort sehr gruselig. Eine lebensgroße Clownspuppe saß darauf. Ich konnte Clowns noch nie besonders gut leiden, aber diese Riesenpuppe ließ es mir kalt den Rücken herunter laufen.

»Du hast ja eine neue Puppe«, murmelte ich in Luisas Ohr und ging mit gebührendem Abstand an dem Ding vorbei.

Mir war es unbegreiflich, wie die Meyers so ein abscheuliches Ding in das Zimmer ihrer Kleinsten setzen konnten. Die roten Haare und die übergroße Fliege in der gleichen Farbe stachen mir ins Auge. Okay, zugegeben, ich hätte vielleicht diesen Horrorfilm mit dem Clown nicht ansehen sollen. Aber selbst wenn ich ihn nicht gesehen hätte, wäre mir bei diesem Anblick Angst und Bange geworden. Vielleicht habe ich ja auch vorher schon so eine Art Clownsphobie gehabt, denn selbst auf Jahrmärkten und Festen ging ich diesen verkleideten Hofnarren aus dem Weg.

Ich musste Frau Meyer unbedingt darauf ansprechen, warum sie dieses Monstrum ausgerechnet in Baby Luisas Zimmer geparkt hatte.

Mir war es jedenfalls unheimlich hier im Zimmer zu bleiben, deshalb ging ich in das Kinderzimmer der Zwillinge gegenüber und schaukelte Luisa in meinen Armen in den Schlaf, während ich eine Melodie für sie summte. Sie knötterte zwar ein wenig, aber schon nach ein paar Minuten war sie eingeschlummert, deshalb ging ich zurück in das Babyzimmer und legte sie vorsichtig in ihr Gitterbettchen. Vom Flur aus schimmerte etwas Licht in das Zimmer, gerade genug um noch die Umrisse der hässlichen Puppe zu erkennen. Ich machte mich auf Zehenspitzen hinaus und ließ die Tür offen, damit Luisa nicht in völliger Dunkelheit lag.

Lily und Paul präsentierten mir stolz ihr fast fertiges Puzzle, eingerahmt von vielen Bunten Cocktailschirmchen. Obwohl sie offensichtlich alle Melonenstückchen verputzt hatten, fragten sie nach mehr. Also ließ ich mich breitschlagen noch ein paar Stücke Melone für sie zu schneiden. Ich könnte schwören, ich habe das Messer ganz hinten auf die Ablage gelegt, um sicherzugehen, dass die beiden es nicht erreichen und sich damit versehentlich verletzen konnten. Aber es war weg. Ich sah überall nach, in der Spülmaschine, im Waschbecken, in den Schubladen – Fehlanzeige.

»Habt ihr etwas aus der Küche genommen?«, fragte ich deshalb vorsichtshalber die Kinder, als ich ins Wohnzimmer zurück kam.

»Neeeeeein«, erwiderte Lily und sah mich aus ihren großen Kulleraugen an. Und auch ihr Bruder schüttelte den Kopf: »Wir waren die ganze Zeit hier und haben gepuzzelt.«

»Fehlt dir ein Sonnenschirm?«, wollte Lily wissen und versuchte aus ihrer Puzzle-Umrandung auszumachen, welches Schirmchen sie am ehesten entbehren konnte.

Ich kannte die beiden lange genug und wusste auch, wie sie aussahen, wenn sie versuchten mir eine Lüge aufzutischen. Dann kicherten sie und sahen sich gegenseitig immer wieder an – sie waren wirklich schlechte Lügner. Ich ging demnach davon aus, dass sie die Wahrheit sagten.

Bevor ich der Sache weiter auf den Grund gehen konnte, hörte ich Luisa laut weinen. Sie klang nahezu erschrocken.

»Macht keinen Blödsinn, nur puzzeln!«, ermahnte ich die Kleinen, »ich bin gleich wieder da!«

»Ist gut!«, nickte Lily und arrangierte die Schirme neu.

Schnell lief ich zurück ins Babyzimmer, die Tür machte ich weit auf, damit mehr Licht hineinschien. Luisa lag schreiend im Bettchen. Ich versuchte sie zu beruhigen, was auch recht schnell klappte. Danach bereitete ich für Lily und Paul mit einem Ersatzmesser die gewünschten Wassermelonen-Würfel zu. Das Messer wusch ich gewissenhaft ab und trocknete es, bevor ich es wieder in die kindergesicherte Schublade verschwinden ließ. Nach dem anderen Messer wollte ich noch suchen, doch kaum hatte ich den Kindern ihre Melonenstücke gereicht, begann das Baby erneut wie am Spieß zu schreien. Das war merkwürdig, denn das machte sie sonst nie, wenn ich zum Babysitten kam. Ein zweites Mal ging ich zu ihr ans Kinderbettchen und beruhigte sie. Diesmal war Luisa etwas zickig und wurde nur durch gutes Zureden und streicheln wieder müde. Noch immer stellten sich mir die Nackenhaare auf, wenn ich an dieser scheußlichen Puppe vorüber ging. Wenn ich paranoid wäre, hätte ich behauptet, der Fuß des Clowns stand plötzlich nach links gerichtet, wo die Füße zuvor noch zusammengestanden hätten. Aber ich konnte es nicht beschwören. Eine innere Unruhe machte sich in mir breit und ich beschloss Frau Meyer anzurufen und nachzufragen, ob Luisa vielleicht krank war. Es kam mir einfach merkwürdig vor, dass sie schon zwei Mal wie von der Tarantel gestochen losgeschrien hatte.

»Mach dir keine Sorgen, Jolina. Vielleicht hat sie sich wegen einem Geräusch erschrocken oder es war ihr zu dunkel im Zimmer. Wenn sie nochmal schreit, dann lass einfach die kleine Lampe in ihrem Zimmer brennen und mach die Spieluhr an. Dann schläft sie bestimmt tief und fest ein.« Die telefonische Anweisung von Frau Meyer beruhigte mich etwas.

Doch kaum hatte ich aufgelegt, ging die Babysirene ein drittes Mal los. Ich schaltete vorsichtshalber den Fernseher für die Kinder ein, damit sie nicht auf die Idee kamen Blödsinn zu machen, weil sie von mir nicht die nötige Aufmerksamkeit bekamen. Als ich dann zu Luisa ins Kinderzimmer ging, tat ich genau, was Frau Meyer mir aufgetragen hatte. Ich schaltete die lila Papierlampe ein, die das Zimmer in sanftes Licht hüllte und sprach mit Luisa. Frau Meyer sagte immer, ich solle immer erst versuchen sie ruhig zu bekommen, ohne sie aus dem Bett zu heben und daran hielt ich mich. Luisa weinte dicke Krokodilstränen und umklammerte meine Finger, die ich ihr ins Bett streckte. Aber als ich ihr gut zuredete und die Spieluhr, ein am Gitter befestigter Stoff-Mond, aufzog, wurde sie still und lauschte den ihr bekannten Klängen. Es dauerte ein bisschen, doch irgendwann schloss sie wieder die Augen und schlummerte ein.

Die Zwillinge saßen friedlich auf dem Sofa und sahen sich eine Zeichentrickserie an, als ich wieder zu ihnen kam. Sie hatten inzwischen die Wassermelone verputzt. Ich setzte mich zu ihnen und Paul klärte mich über die Figuren der Sendung auf. Dann heulte Luisa erneut auf. Lily stöhnte genervt über ihre kleine Schwester. Ich eilte zu ihr und wie jedes Mal, wenn ich ihr Zimmer betrat, fiel mein Blick auf die Abscheulichkeit von Clownspuppe. Wie sie da saß und vor sich hin starrte. Vielleicht hatte Luisa ja ebenfalls Angst vor diesem Ding – genau wie ich. Immerhin war der Clown so groß wie ein Mensch, da konnte man als Baby doch einfach mal Schiss bekommen. Ich beschloss die Ärmste jetzt aus ihrem Bettchen zu heben und mit ins Wohnzimmer zu nehmen. Sie hörte auf zu weinen, als wir ihr Zimmer verließen. Ich zog die Tür hinter mir zu, um sicherzugehen, dass zwischen dem Clown und mir eine Barriere war. Es war mir zwar peinlich, aber ich wählte ein weiteres Mal die Handynummer ihrer Mutter.

Frau Meyer war aber nicht sauer, sondern hatte wie immer viel Geduld.

»Tut mir leid, dass ich schon wieder störe«, entschuldigte ich mich.

»Das macht nichts. Du kannst jederzeit anrufen. Was ist denn los?«

»Ich habe Luisa jetzt ins Wohnzimmer mitgenommen. Sie schreit immer wieder wie am Spieß los, wenn ich sie alleine lasse.« Ich war schon ein wenig niedergeschlagen deswegen und zweifelte langsam an meinen Babysitter-Künsten.

Frau Meyer erlaubte mir die Kleine eine Weile im Wohnzimmer zu behalten, bis sie wieder eingeschlafen war.

»Wenn ich sie wieder ins Bett lege, kann ich dann den Sessel abdecken?«, erkundigte ich mich.

»Wieso das?«, wollte Frau Meyer wissen.

»Wegen diesem riesen Ungetüm von Clown, der da auf dem Sessel sitzt. Der ist wirklich gruselig und macht sogar mir Angst. Vielleicht kann sie deswegen nicht einschlafen.«

»Was für ein Clown?«, fragte Lily sofort.

Die gleiche Frage stellte mir auch ihre Mutter und im gleichen Moment lief es mir eiskalt den Rücken herunter. Ein schwarzer Schleier der Ohnmacht umhüllte mich.

Konnte das wirklich möglich sein? War der Clown überhaupt keine Puppe?

Mir fiel es schwer Worte zu finden und um die Kinder nicht zu beunruhigen, sprach ich sehr leise ins Telefon, so dass meine Stimme vom Fernsehprogramm übertönt wurde.

»In Luisas Zimmer sitzt auf dem Sessel eine Clownspuppe – die ist so groß wie ein Mensch. Bitte jagen Sie mir jetzt keine Angst ein.« Ich wartete gespannt ab und schickte innerlich ein Stoßgebet gen Himmel, dass sich die ganze Situation nun aufklären würde.

»Jolina, bitte tu mir einen Gefallen. Nimm die Kinder und gehe rüber zu den Nachbarn. Jetzt sofort!« Die Stimme von Frau Meyer war zwar ruhig, aber bestimmt.

»Wir haben keine Clownspuppe in Menschengröße«, fügte sie hinzu.

Ich war starr vor Angst und starrte in den langen Korridor hinein, an dessen Ende sich das Kinderzimmer befand. Nur ein paar Meter zwischen uns und diesem… Ding.

»Wenn du da bist, ruf die Polizei an. Wir machen uns sofort auf den Weg und sind in ein paar Minuten da!« Ich hörte Frau Meyer noch sprechen und schaffte es irgendwie ein »okay« herauszubringen. Aber im Geiste war ich damit beschäftigt, dass aus der Küche ein Messer verschwunden war – ein großes Messer!

Ich legte auf und sagte zu den Kindern: »Mama hat gesagt wir treffen uns bei den Nachbarn.«

»Wieso?«, fragte Paul, während er mit einem Cocktailschirmchen ein Puzzleteil in die Verpackung schob.

»Weil Luisa nicht schlafen kann. Aber wir müssen ganz leise sein… wir schleichen wie Indianer, okay?« Ich versuchte mir ein unbeschwertes Lächeln abzuringen, während mein Blick immer wieder in den Korridor glitt.

»Aber nur wenn Luisa nicht weint!«, kicherte Lily.

»Kommt!«, forderte ich die beiden leise auf.

Ich ließ den Fernseher laufen und schob die Zwillinge leise in den Flur. Mein Herz raste, Schweiß brach mir aus und jede Sekunde kam mir vor wie Stunden, bis wir endlich die Haustür erreichten. Die Kinder wollten ihre Schuhe anziehen, aber ich flüsterte: »Heute gehen wir in Schlappen, Indianer dürfen das!«

Sie kicherten erfreut und liefen nicht gerade leise hinaus. Ich folgte ihnen mit dem Baby auf dem Arm und zog leise die Haustür hinter mich zu. Paul und Lily liefen durch den Vorgarten und spielten Fangen.

»Pssst«, ermahnte ich sie und lief zum Gartentor. Sie folgten mir und hielten sich die Hand vor den Mund, um nicht laut loszulachen.

Dann überquerten wir die Straße und ich klingelte bei den Nachbarn gegenüber. Ihr Auto stand in der Einfahrt, sie mussten also da sein.

»Bitte, bitte, seid zu Hause!«, wisperte ich.

Dann ging endlich das Licht im Flur an und Frau Behrens öffnete die Haustür.

»Wir sind Indianer!«, riefen die Kleinen und liefen an ihr vorbei und ins Haus.

»Jolina, stimmt was nicht?«, fragte sie, als sie mein Gesicht sah. Ich musste vor Schreck so blass im Gesicht sein, dass sie von vorneherein dachte, etwas wäre passiert.

»Jemand ist im Haus, er sitzt im Kinderzimmer von Luisa in einem Clownskostüm!«, sagte ich leise und blickte ängstlich über meine Schulter zurück.

»Was?«, sie zog mich ins Haus und schloss die Tür.

Wir riefen die Polizei an und während die Zwillinge mit Frau Behrens Sohn auf seiner xBox spielten, erzählte ich am Telefon von dem Clown im Kinderzimmer und dem verschwundenen Messer. Ich hatte erst das Gefühl sie nehmen mich nicht richtig ernst, ich wusste selbst, wie verrückt das alles klang.

Wenige Minuten später trafen die Polizei fast zeitgleich mit den Meyers in der Straße ein. Sie klingelten zuerst bei den Behrens, weil ich von dort aus angerufen hatte und noch während wir sie an der Tür begrüßten, sahen wir ihn. Der Clown schlich an der Seite des Hauses entlang und war auf dem Weg in den Vorgarten des Nebengrundstücks. In seiner Hand das große Küchenmesser.

»Da!«, rief Frau Behrens aufgebracht.

Die Polizisten liefen auf die andere Straßenseite und forderten die verkleidete Person auf, stehen zu bleiben. Es ging alles ganz schnell. Als er entwaffnet war, nahmen sie ihn in Gewahrsam.

Nach einer Personalienüberprüfung teilte einer der Polizisten uns mit, dass es ein Mann war und dieser offenbar aus der geschlossenen Psychiatrie ausgebrochen war. Weshalb er dort eingesperrt war, konnten sie uns nicht sagen. Aber ich bin mir ziemlich sicher, die Geschichte hätte auch ganz anders enden können.

Vorsichtshalber haben die Meyers die kleine Luisa noch von einem Arzt untersuchen lassen, doch mit ihr war alles in Ordnung. Immerhin konnte niemand sagen, was in den Minuten geschah, in denen ich das Baby mit dem Clown allein im Zimmer zurückgelassen hatte. Vermutlich hat er dort abwarten wollen, bis sich ihm die beste Gelegenheit bietet, um….

Wenn ich darüber nachdenke, dass er durch das Haus schlich und sich aus der Küche das Messer besorgt hat, während ich mit den Zwillingen im Wohnzimmer war, bekomme ich heute noch Angst.

Meine Abneigung gegenüber Clowns hat sich seit diesem Abend noch verschlimmert und ich habe regelmäßig Alpträume. Das Babysitten habe ich vorerst aufgegeben.

Ende der Kurzgeschichte

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