(Lesezeit etwa 9 Minuten)

Ich war noch ein Kind, als der Vampir meine Eltern tötete. Damals wusste ich nicht, weshalb er mich zurückgelassen hat. Ich wusste gar nichts. Ich war einfach nur klein, dünn, schwach und verängstigt.
Wie versteinert lag ich in meinem Bett im Kinderzimmer, die Decke über den Kopf gezogen und obwohl es ohnehin binnen Sekunden absolut stickig war, hielt ich die Luft an. Ich wollte mich keinen Millimeter bewegen – wer immer da war, sollte denken ich existiere nicht. Schon bald schnappte ich verzweifelt nach Luft und bohrte mit dem Finger eine kleine Öffnung in die Decke, direkt vor meinem Mund, so dass ich die Luft dadurch inhalieren konnte. Ich hörte das widerliche Schmatzen und Kauen aus dem Schlafzimmer gegenüber. Meine Tür stand einen Spalt offen, doch ich wagte keinen einzigen Blick.
Die Schreie meiner Eltern hatten mich aufgeweckt. Zuerst waren Mamas Schreie verstummt, zwei Sekunden später hörte ich auch Papa nicht mehr. Ich lauschte, während ich in meinem Bett lag und mir die schlimmsten Dinge ausmalte. Ich wusste, mit meinen Eltern war es vorbei.
Das Schmatzen verging und ich wartete auf mein Ende. Sicher würde der Eindringling jeden Augenblick die Decke von meinem Körper reißen und mich auffressen. So wie er es mit Mama und Papa machte.
Ob es wehtun würde? Oder würde es ganz schnell gehen?
Ich hatte so schreckliche Angst, dass ich am ganzen Leib zitterte. Ich hörte ein Rascheln und dann einen plumpen Aufprall, als wäre ein Körper auf dem Boden gelandet. Danach war es lange Zeit still. Ich wagte nicht, unter der Decke hervorzusehen. Ich wusste nicht, wie viel Zeit verging, deshalb begann ich im Geiste die Sekunden zu zählen. Wenn der Eindringling bei 60 nicht bei mir war, hatte er mich vermutlich gar nicht bemerkt. Als ich bei 60 ankam, verlängerte ich die Frist auf 120. Vielleicht musste er sich noch genauer in unserer Wohnung umsehen. Doch auch, nachdem ich bis 120 gezählt hatte, tat sich nichts. Ich begann wieder von vorne, denn weiter konnte ich noch nicht zählen.
Plötzlich durchschnitt ein Niesen die Stille. Das war meine kleine Schwester. Sie war noch ein Baby, noch nicht einmal ein Jahr alt. Ihre Wiege stand gleich neben dem Bett unserer Eltern. Angespannt lag ich unter meinem Schutzwall aus Daunen und lauschte. Noch ein kleines Niesen aus der Wiege, doch sonst nichts.
Er war weg. Wer immer meine Eltern im Schlaf überrascht und getötet hatte – denn dessen war ich mir sicher – war nicht mehr da. Dennoch lag ich stocksteif im Bett und konnte mich nicht rühren.
Was würde mich im Schlafzimmer erwarten? Ich hatte so furchtbare Angst vor diesem Anblick. Und wenn sie nur ohnmächtig waren? Vielleicht konnte ich noch Hilfe rufen, bevor es zu spät war. Dieser Gedanke allein verlieh mir die Kraft langsam die Decke von meinem Kopf zu ziehen und in die Dunkelheit zu stieren. Im Flur schimmerte ein kleines grünes Nachtlicht. Ich sah durch die offene Tür die Vorhänge des Fensters flattern. Es stürmte bereits den ganzen Abend, noch bevor ich zu Bett gegangen war. Das weit entfernte Gewitter ließ den Himmel immer wieder aufleuchten. Blitze zuckten, gefolgt von grollendem Donner, durch die Finsternis. Sonst konnte ich von meinem Bett aus nichts entdecken. Es war ganz ruhig, bis auf das leise Krähen von meinem Schwesterchen, die nun ebenfalls aufgewacht schien. Ich entschloss mich zumindest sie zu retten. Woher ich den plötzlichen Mut nahm, ist mir noch immer unbegreiflich, aber ich schlug die Bettdecke bei Seite und richtete mich auf. So saß ich ein paar Sekunden in meinem Bett und starrte in hinaus aus meinem Zimmer. Es bewegte sich nichts, bis auf den Vorhang im Elternschlafzimmer.
Was, wenn es gar nicht der Wind war, der die Gardinen auf und ab wallen ließ? Was wenn der Eindringling sich dahinter vor mir versteckte und nur darauf wartete, dass ich näher kam? Würde er mich packen und töten? Auffressen?
Ein erneutes Aufseufzen meiner Schwester ließ mich den Gedanken bei Seite schieben und brachte meinen Körper dazu, vom Bett aufzustehen. Langsam setzte ich einen Fuß vor den anderen und versuchte, nicht auf die herumliegenden Spielzeuge zu treten, die ich Mama bereits vor zwei Tagen versprochen hatte aufzuräumen. Dann war ich an der Tür. Von hier aus konnte ich besser in das Schlafzimmer meiner Eltern sehen. Ich erschrak, als ich Füße auf dem Boden entdeckte.
Versteckte sich da jemand neben dem Bett auf dem Boden?
Unschlüssig verharrte ich in der Position und krallte mich am Türrahmen fest. Meine Fingernägel schmerzten, so sehr grub ich sie in das Holz. Lange Zeit wartete ich ab, ob die Füße sich bewegten.
Waren es überhaupt Füße oder spielten meine Augen mir einen Streich?
Immerhin war es stockfinster und nur das grünliche Licht schimmerte in den Raum. Vielleicht waren es Mamas Füße, sie lag immer auf der Bettseite und konnte herausgefallen sein. Ich war auch schon mal aus dem Bett gefallen, hatte mir dann im Halbschlaf meine Decke heruntergezogen und auf dem Boden weitergeschlafen.
Die Schwere in meinem Herzen war jedoch mehr als überzeugt davon, dass Mama nicht schlief.
Sie war tot.
Ich musste meine kleine Schwester um jeden Preis aus diesem Raum holen. Vielleicht starrte sie die ganze Zeit auf Mama und Papa und hatte Angst. So viel Angst, dass sie nicht einmal weinte. So wie ich still und starr zuvor in meinem Bett gelegen hatte.
Ich kniff die Augen zusammen und leckte mir über die trockenen Lippen. Dann bewegte sich mein Körper wie von selbst. Lautlos tapste ich über den kalten Fliesenboden im Korridor hinüber auf die Türschwelle des gefürchteten Zimmers. Ein Windstoß ließ die Vorhänge aufwehen und ein Blitz in der Ferne erhellte die schwarze Nacht. Niemand versteckte sich dort am Fenster. Kalte Luft zog durch das offene Fenster hinein und mir fröstelte es. Schließlich wagte ich zum Bett hinzusehen. Mein Vater lag auf dem Rücken quer über dem Bett. Seine rechte Hand hatte sich ins Bettlaken gekrallt und es halb von der Matratze gerissen. Mit erschrockenem Blick stierten seine offenen Augen an die Decke. Ein weiterer Blitz erhellte die Finsternis und auch Papas Gesicht. Ich hatte das Gefühl, als lägen Steine auf meiner Brust, so schwer wurde sie mir. Papa sah aus, als hatte er Angst in den letzten, verstrichenen Sekunden seines Lebens.
Was sollte ich nur tun? Ich fühlte mich so hilflos und ausgeliefert. Wer würde mir nun sagen, dass alles wieder gut wird? Wer würde mich vor allem Bösen beschützen, wenn es Papa nicht mehr konnte? Und Mama?
Wie in Trance balancierte ich über den eiskalten Boden bis hin zur anderen Bettseite, von wo aus ich auf den Boden sehen konnte. Da lag sie, in ihrem Lieblingsnachthemd. Das mit den Katzen drauf, über die ich immer eine andere Geschichte erfand, wenn sie mich ins Bett brachte. Sie lag auf der Seite, ich sah das Blut aus ihrer Wunde am Hals sickern. Dunkelrot, fast schon schwarz tropfte es auf den weißen Bettvorleger unter ihr.
Mir war, als würde ich rücklings in ein endloses schwarzes Loch fallen. Meine Augen füllten sich mit Tränen, während ich auf Mamas leblosen Körper starrte, der immer wieder im zuckenden Blitzlicht des Gewitters aufleuchtete.
Das unbeschwerte Glucksen meiner kleinen Schwester riss mich aus meiner Ohnmacht. Ich drehte mich zur Wiege an der Wand, um nach ihr zu sehen. Mit einem großen Schritt hechtete ich auf das Bettchen zu, als ich den großen dunklen Schatten darüber entdeckte. Mein Herz blieb vor Schreck fast stehen. Erst dachte ich, meine Augen hätten mir einen Streich gespielt, doch dann wurde mir klar, dass die Silhouette über dem Bett eine Person war. Der Eindringling!
Ein Blitz leuchtete durch das Fenster hinein und hüllte den Fremdling in weißblaues Licht. Eine lange Sekunde starrte er mich aus seinen blauen Augen an. Er war jünger als Papa. Der Mann schien genauso erschrocken darüber mich zu sehen, als hätte er mit mir nicht gerechnet. Er war ganz in schwarz gekleidet, sogar an den Händen trug er schwarze Lederhandschuhe. Das machten Einbrecher so, um ihre Spuren zu verwischen, dachte ich. Ich sah nicht, wie er sich auf mich zu bewegte, plötzlich stand er direkt vor mir und blickte zu mir herunter. Er erschien mir so unerreichbar groß.
Ich hob den Kopf und starrte zu ihm nach oben. Tränen verschwommen mir die Sicht. Ich wollte ihm sagen, dass er meiner Schwester nichts tun sollte. Ich wollte ihn anflehen Mama und Papa zu helfen. Aber ich war einfach unfähig. Ich stand nur da, zitterte wie Espenlaub und heulte.
Er ging in die Hocke, so dass unsere Gesichter auf gleicher Höhe waren. Langes schwarzes Haar umspielte seine verzogene Visage. Seine Erscheinung allein war Angst einflößend. Eine eisige Kälte ging von seinem Körper aus, Gänsehaut breitete sich bei mir aus.
Eingehend betrachtete er mich, während ich einfach nur wie ein Häufchen Elend da stand und schluchzte. Seelenruhig hob er seine behandschuhten Finger und streckte sie nach mir aus. In dem Moment brannte bei mir eine Sicherung durch. Ich holte aus und schlug ihm so fest ich konnte ins Gesicht.
Meine kindliche Ohrfeige überraschte ihn. Er fauchte, wobei zwei lange Vampirzähne aus der oberen Gebissreihe aufblitzten. Bei dem Anblick seiner Fratze fiel ich vor Schreck nach hinten um und landete auf meinem Gesäß. Mein Hintern tat mir weh, aber den Schmerz registrierte ich nicht. Alles was ich sah, war dieses schreckliche Monster vor mir. Meine schlimmsten Befürchtungen würden sich bewahrheiten – er würde mich auffressen!
Er beugte sich über mich und seine blauen Augen wurden plötzlich immer heller. Sie begannen zu leuchten, wie zwei bunte Glühbirnen. Niemals im Leben werde ich dieses verzerrte Bild vor meinen Augen vergessen. Ich kniff die Augen zusammen und wartete auf den Schmerz. Gleich war alles vorbei. Ich hielt die Luft an. Mit einem Mal verschwand die Eiseskälte, die er ausstrahlte, von meinem Körper. Ich hörte etwas am Fenster klappern und öffnete die Augen. Er hockte auf der Fensterbank und sah noch einmal über seine Schulter hinweg zu mir. Dann sprang er.
Geschockt starrte ich zum Fenster. Im Geiste stand ich auf und rannte dorthin, um ihn fallen zu sehen. Doch ich konnte mich nicht bewegen. Die Angst nagelte mich auf dem kalten Boden fest. So lag ich da, nur bekleidet mit einem dünnen T-Shirt und einer Unterhose. Meine Beine wurden so kalt, dass ich sie fast nicht mehr spürte. Trotzdem konnte ich mich einfach nicht mehr bewegen. Die ganze Nacht verharrte ich in dieser Position. Selbst als meine Schwester zu weinen begann, war es mir unmöglich, mich zu bewegen. Ich starrte zum Fenster raus, beobachtete das Gewitter über die Stadt hinwegziehen und schlief irgendwann ein, als ich die Augen nicht mehr offen halten konnte.
Erst als meine Tante am nächsten Morgen laut weinend im Schlafzimmer stand, erwachte ich zitternd.
In dieser Nacht hat der Vampir meine Kindheit zerstört. Er hat kaltblütig meine Eltern ermordet. Jahrelange Therapiesitzungen musste ich über mich ergehen lassen, da ich zunächst so verängstigt war, dass ich überhaupt nicht mehr sprach. Was ich dann, nach langer Einwirkung der Therapeuten und Psychologen, von mir gab, wollte niemand glauben. Sie diagnostizierten mir, mich in eine Fantasiewelt geflüchtet zu haben. Sie glaubten ich hätte meine Eltern ermordet. Ein kleines, unschuldiges Mädchen. Letztendlich wurde die Sache nie aufgeklärt, zumindest weiß ich davon nichts. Aber im Kinderheim erzählen sie einem auch nicht besonders viel. Meine Schwester habe ich seit dieser Nacht nie wieder gesehen. Wir wurden getrennt – immerhin war ich die Verrückte, die neben den Leichen ihrer Eltern übernachtet hat. Da sie noch ein Baby war, fanden sie schnell Pflegeeltern für sie.
Seit dieser Nacht, in der sich mein Leben auf den Kopf stellte, versuchen sie mir einzureden, ich habe diesen Vampir nur erfunden. Doch ich weiß, er war echt. Niemals werde ich diese bittere Angst vergessen, die er mir eingejagt hat. Seine Fratze war für immer in mein Gehirn eingebrannt. Hunderte von Zeichnungen stapelten sich in einem Karton unter meinem Bett, verborgen vor den Blicken meiner Erzieher, Freunde und Seelenklempner. Bilder von ihm, die ich immer wieder malte, nach jedem Alptraum, der mich heimsuchte. Unter keinen Umständen wollte ich auch nur ein einziges Detail vergessen. Diese Phantombilder waren meine private Verbrecherkartei, in der ich nur einen einzigen Mann festhielt. Den Vampir.
Den Karton habe ich noch immer und hüte ihn wie einen Schatz. Immer wieder gehe ich die Zeichnungen durch und rufe mir bewusst diese Nacht in den Kopf.
Jetzt bin ich nicht mehr schwach. Ich bin älter und stärker, als damals. Sein Fauchen kann mich nicht mehr erschrecken. Ich werde ihn finden, und wenn es das Letzte ist, was ich tue.
Ich glaube an Vampire und ich weiß, dass sie sich vor der Menschheit verstecken. Denn wenn die Gesellschaft wüsste, was für Monster sich unter ihnen verbergen, würden sie diese ausrotten.
Die Welt retten kann ich nicht, aber ich werde meine Eltern rächen.
Ich werde herausfinden, weshalb sie sterben mussten. Ich finde den Mann mit den königsblauen Augen und den schwarzen Haaren, die sein erschreckend weißes Gesicht umrahmten. Ich bringe diesen Vampir zum Reden, bevor ich ihn töte.
Gestern habe ich im Fitnessstudio diesen Typen gesehen, der jeden Abend da ist, wenn ich trainiere. Ich sah die Pflöcke in seiner Tasche, die ihm fast herausgefallen wären. Ich weiß jetzt, dass ich nicht die Einzige bin, die diesen Blutsaugern auf der Spur ist. Er weiß, wo ich sie finde. Vielleicht weiß er sogar, wo ich ihn finde. Ab heute mache ich ernst.
Auch wenn ich tief im Innern noch immer das kleine Mädchen bin, das er zitternd auf dem kalten Boden zurückgelassen hat.

Ende der Kurzgeschichte

Lichtbringer Vampire: Manifest eines Opfers (Kurzgeschichte)
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