(Lesezeit etwa 15 Minuten)

Prolog
Es war kühl. Luftlos. Die feuchte, lockere Erde umhüllte sie, lag schwer auf ihrem Haar, legte sich in jede Hautfalte und verschloss ihre Nasenlöcher. Nur ihre geschlossenen Lider und Wimpern schützten ihre Augen vor dem Dreck. Kleine Bewohner bewegten sich im dunklen Erdreich. Regenwürmer gruben sich winzige Gänge durch den Boden, machten dabei einen Bogen um sie, als ahnten sie die Gefahr. Ein Käfer verirrte sich bis auf ihr Schienbein, flüchtete dann aber. Es kam ihr vor, als spürte sie die Panik der Insekten.
Seit Stunden war sie bei vollem Verstand und sie wusste nicht, wie lange sie hier noch ausharren musste. Sie hörte Stimmen, hoch oben über der Erde. Dort, wo sie eigentlich sein sollte. Doch die Geräusche waren vorüber gegangen. Seitdem lag sie bewegungslos in der Stille, eingebuddelt in der Erde, mit wachem Geist und toten Körper. Sie wollte atmen, endlich Sauerstoff atmen. Doch dann würden sich ihre Lungen sofort mit dem Staub der Erde füllen. Und so hielt sie die Luft weiter an. So unvorstellbar lange schon.
Die Schmerzen waren längst vorbei. Am schmerzvollsten war es, bevor sie das Blut des Lichtbringers getrunken hatte. Sie hatte nur noch auf den Tod gewartet. Er hatte sie in letzter Sekunde gerettet und vergraben. Jetzt lag sie in einem tiefen Erdloch, wusste nicht wo, spürte aber die Anwesenheit des Todes.
Schaufel um Schaufel hatte er die lose Erde auf sie geschippt. Bis ein gewaltiger Druck auf ihrem Körper lastete und das ausgehobene Grab mit ihr darin vollkommen ausgefüllt war. Doch der Lichtbringer hatte sie nicht allein gelassen. Er war über der Erde, wachte über sie, während sie sich der beängstigenden Verwandlung hingab.
Das Schlimmste war, lebendig begraben zu sein. Ihr Körper befand sich bereits am Rande des Todes, sonst hätte sie dagegen angekämpft. Ihr Herz schlug heftig vor Panik, der Drang nach Luft zu schnappen war übermächtig und sie zitterte am ganzen Körper.
Sie wollte atmen, durfte es aber nicht, weil sie sich sicher war, dass sie erstickte, sobald die Erde in ihre Atemwege drang. Bunte Flecken tanzten vor ihren geschlossenen Augen, Schwindel erfasst sie, bis sie es keine Sekunde länger aushielt und den Mund öffnete, um zu atmen. Kalte, feuchte Erde rieselte hinein, auf ihre Zunge, in ihren Hals und schließlich inhalierte sie diese in die Lungen.
Das war der Zeitpunkt, als sie erstickte. Nur langsam erwachte sie aus ihrem Totenschlaf. Erneut erfüllte sie Panik und wieder versuchte sie zu atmen. Bis ihr klar wurde, dass sie es nicht mehr musste. Atmen war eine menschliche Angewohnheit. Sie war kein Mensch mehr. Der Schmutz in ihren Lungen brannte, alles in ihrem Körper glühte.
Ihr Tastsinn war vertausendfacht. Sie spürte jedes Erdkörnchen auf sich, während sie innerlich versengte. Das Blut des Lichtbringers schwelte in ihr, vernichtete den letzten Rest menschlicher DNA und fraß sich durch ihre Blutbahn. Sie spürte den Schmerz unter ihren Nägeln, in ihrem Zahnfleisch, in ihren Eingeweiden, selbst bis in die Spitzen ihrer Haare.
Sie wollte schreien. Weinen. Wollte seinen Namen brüllen. Cedrik! Er sollte sie endlich befreien und sie aus diesem gottverdammten Grab heben.
Cedrik war da. Direkt über ihr. Auch wenn er reglos da stand, wusste sie, dass er bei ihr war und mit ihr jede Sekunde ihrer Wandlung zählte. Stück für Stück kam die Kraft zurück in ihren geschwächten Körper. Mit jedem Herzschlag breitete sich sein majestätisches Blut in ihr aus, vermehrte sich wie ein Virus.
Doch es war keine Krankheit, die sie in sich spürte. Es war unheilbar, bis in alle Ewigkeit. Irgendwann begriff sie, dass Cedrik sie nicht befreite. Sie musste es von selbst schaffen, sobald sie vollständig verwandelt war. Instinktiv wusste sie, dass sie bis zur Nacht warten musste, Unsterblichkeit hatte ihren Preis. Sie konnte sich nie wieder im Sonnenlicht aufhalten, denn das war tödlich. Nicht für Cedrik, er war ein geborener Lichtbringer und hatte schon vor seinem Übergang in die Unsterblichkeit besondere Fähigkeiten.
Ein Lichtbringer war als Vampir sehr viel mächtiger, als ein gewöhnlicher Mensch. Aber seine mächtigste Eigenschaft war, sich im Sonnenlicht aufhalten zu können.
Einem einfachen Vampir war das nicht vergönnt. Er verbrannte auf der Stelle. Schmerzen die viel schlimmer waren, als die der Wandlung. Das alles wusste sie jetzt, weil Cedriks Blut in ihren Adern floss und ihre Vorstellungskraft um so viel mehr gesteigert hatte.
Alles war anders. Sie spürte die Veränderung. Ein Energieschub durchfuhr ihre Muskeln und die Kraft breitete sich aus. Das Brennen in ihrem Körper schwand. Die Zeit fühlte sich länger an, so unendlich lang. Sie konnte in einer Sekunde hundert Mal so vielen Gedanken nachgehen, wie zuvor als Mensch.
Und noch etwas war anders: Ein kleines stechendes Gefühl in ihrem Herzen. Etwas drückte ihren Brustkorb zusammen und es war längst nicht mehr die Erde. Denn die hatte ihr Gewicht verloren, war leichter, wie ein Leichentuch, das sie sanft umhüllte. Sie musste es nur wegschieben. Nein, das Stechen kam von etwas anderem. Kummer umspannte fest ihr Herz und drückte ihren Brustkorb zusammen. Sie war traurig über ihr verlorenes Leben und sehnte sich nach dem Lichtbringer, der sie erschaffen hatte, dessen Blut sie erweckte.
Sie spürte ihn dort oben. Obwohl er sich nicht rührte, wusste sie, dass er die ganze Zeit vor ihrem Grab stand. Sogar wie er sich fühlte wusste sie. Eine merkwürdige Fähigkeit, die die Sehnsucht zu ihrem Schöpfer nur noch verstärkte. Sie war ihm loyal. Gebunden an sein Blut und an ihn. Einen Mann, den sie kaum kannte und den sie mit jeder Sekunde mehr verehrte. Wie einen Anführer, einen Freund, einen Geliebten.
»Emma«, sagte er ruhig. Sie konnte ihn trotz der Erde zwischen ihnen hören. Ihre neuen Sinne waren sehr sensibel.
»Die Sonne ist untergegangen, Zeit aufzustehen«, fügte Cedrik hinzu. Sie hob ihre Arme und schob sie langsam empor. Die Erde perlte von ihrem schmalen Körper ab, als wäre sie ohne Gewicht.
Emma spürte kühle Nachtluft auf ihrem Unterarm, als sie immer weiter an die Oberfläche drang. Sie drückte sich mit den Armen vom Boden ab und schob mit den Beinen nach. Sie spürte, wie ihre Lungen sich mit Sauerstoff füllten, doch es war anders als sonst.
Nie zuvor hatte sie so frische Luft eingeatmet. Reine, wunderbare Nachtluft. Cedrik streckte ihr seine Hand entgegen, als sie vollständig aus dem Grab gekrochen war und ungraziös vor ihm auf dem Boden lag. Sie ergriff sie und ließ sich von ihm hochziehen. Überrascht stellte Emma fest, wie leicht es ihr fiel sich aufzurichten. Ganz anders wie sonst, als sie noch ein Mensch war.
Die Dunkelheit war nicht mehr die Gleiche. Emma sah alles, wie an einem wolkenverhangenen, regnerischen Tag. Sie wollte ihn so vieles fragen, doch aus ihrem Mund kam nur ein kehliger Laut und sie musste husten. Sie hustete so sehr, bis sie würgte. Emma drehte sich von Cedrik weg und übergab sich. Ihr Hals stand in Flammen, nachdem sie den Inhalt ihres Magens zusammen mit der Erde erbrochen hatte.
Schließlich drehte sie sich wieder zu ihm um und wischte sich den Dreck und die Tränen aus den Augen.
»Fühlt sich immer noch genauso beschissen an, wie früher«, fand sie.
Er lächelte leicht. Sie blickte wie hypnotisiert in sein Gesicht. Das war das erste Mal, dass sie ihn lächeln sah. Seine türkisfarbenen Augen verengten sich, während er sie betrachtete.
»Danke, dass du mich gerettet hast«, sagte sie.
Cedrik blickte sie ernst an: »Du wirst mich dafür noch verfluchen.«
Kapitel 1
Emma blickte sich auf dem dunklen Friedhof um. Mitten zwischen all den Grabsteinen hatte Cedrik das Loch für sie ausgehoben, in dem sie so unendlich lange eingegraben war.
»Wie lange war ich da drin?«, fragte sie ihn. Ihr Blick fiel wieder auf den zerwühlten Haufen Erde, aus dem sie kurz zuvor gekrochen war.
»Zwei Tage«, antwortete der Lichtbringer knapp. Seine Stimme war wie Musik in ihren Ohren. So vertraut, als gehörte er schon immer zu ihr und sie schon immer zu ihm.
Sie wagte kaum, sich zu ihm umzudrehen und sich von seiner strahlenden Schönheit betören zu lassen.
»Ein Loch im Wald hätte es auch getan«, flüsterte sie, während ihr Blick über die unzähligen Grabstätten ging.
Doch Cedrik schüttelte den Kopf: »Für die Verwandlung muss man in geweihtem Boden beerdigt werden.«
Emma dachte darüber nach, ob sie diesen Friedhof kannte. Doch es wollte ihr einfach nicht einfallen. Noch vor kurzer Zeit lag sie unter der Erde und war in so vielen Gedanken versunken. Über ihr vergangenes Leben, darüber, was sie erlebt hatte.
Nun war ihr Geist absolut leer. Als sie aus dem Grab gestiegen war, waren alle Erinnerungen von ihr abgefallen. Selbst wenn sie sich jetzt anstrengte, wollten sie einfach nicht zurückkommen. Es war wie das Gefühl diese eine Sache vergessen zu haben, die einem auf der Zunge lag und die einem sicher jede Sekunde einfallen würde. Nur hatte sie nicht nur diese eine Sache vergessen, sondern ihr ganzes Leben. Alle Geschehnisse und Menschen darin. Einfach alles. Sie wusste nicht einmal, weshalb sie in einen Vampir verwandelt worden war. Ihr war nur klar, dass Cedrik es getan hatte.
Er hatte ihr sein Blut gegeben. Und bevor er sie vergraben hatte, trank er auch von ihr. Sie waren nun vereint. Das spürte sie mit jeder Faser ihres Körpers. Sie würde immer wissen, wo er war, ihn mit Leichtigkeit finden können. Es war wie ein unsichtbares Band zwischen ihnen. Selbst wenn er am anderen Ende der Stadt war, würde sie ihn aufspüren. Sie gehörte jetzt zu ihm und was immer er wollte, wollte sie auch. Sie wollte ihm gehorchen. Sie wollte alles für ihn tun.
Doch welche Bedeutung hatte er in ihrem Leben, dass er so wichtig für sie war? Welche Beziehung hatten sie zueinander? Warum hatte er sie zu dem gemacht, zu einem Vampir?
Sie versuchte sich zu konzentrieren, sich diese Fragen zu beantworten. Sie suchte nach etwas, was geschehen war, bevor er sie vergraben hatte. Etwas aus ihrer Erinnerung an das Menschsein.
Nichts.
Sie wusste genau, dass sie noch so vielen Gedanken nachgegangen war, während sie unter der Erde lag. »Ich kann mich an nichts erinnern!« Sie sprach es endlich aus.
»Ich weiß«, antwortete er.
»Warum kann ich mich an nichts erinnern?«, wollte sie wissen und es klang fast etwas zu vorwurfsvoll.
Es tat ihr leid ihn so angesprochen zu haben. Er war doch ihr Ein und Alles. Sie wollte ihn nicht verärgern. Doch er schien nicht böse zu sein.
»Du bist gerade wiedergeboren. Als Vampir. Dein altes Leben existiert nicht mehr.«
Ein Gefühl der Ohnmacht machte sich in ihr breit. Sie hatte nicht alles vergessen wollen. Konnte sie davon gewusst haben und trotzdem mit der Verwandlung einverstanden gewesen sein? Hatte sie akzeptiert alles aufzugeben, was sie ausmachte, wer sie war, wen sie gekannt hatte? Selbst die Erinnerung an Cedrik?
»Aber was soll ich denn jetzt…?!« Emma versuchte ruhig zu bleiben, während die Panik sich in ihr ausbreitete.
Ihr Kopf begann zu schwirren, vor ihren Augen drehte sich alles. Ihre Lungen waren heiß. Eine Hitze, die sich durch ihren ganzen Körper zog. Sie spürte große Kraft durch ihre Adern fließen und hörte den rhythmischen Herzschlag in Cedriks Körper. Sie konnte präzise genau die Stelle ausmachen, in die sie beißen musste, um am schnellsten an sein Blut zu gelangen. Ein Instinkt, der ihr fremd war, doch den sie von nun an zum Überleben benötigte.
Ihre Zähne schmerzten. Sie spürte dass sich neben ihren Schneidezähnen Fänge aus dem Zahnfleisch schoben und sich ihrer Unterlippe entgegen drückten.
Hunger.
Ihre Sicht schärfte sich und ihr Gehör wurde sensibler als zuvor. Dieser Hunger – oder war es Durst? Ihre Kehle brannte, als sei sie vollkommen ausgetrocknet. Seine Augen lagen interessiert auf ihrem Gesicht.
»Der Durst ist in den ersten Tagen am schlimmsten. Es sind Schübe. Sie gehen wieder vorbei.«
Emma fühlte sich ertappt. Er musste es ihr nicht sagen, denn sie wusste, dass er als Vampir ihre Gedanken verfolgen konnte. Sie schloss ihre Augen und in ihr heulte etwas auf, als sie mit ihrem neuen scharfen Vampirblick nicht länger seine Schönheit betrachtete. Sie schluckte und versuchte den Hunger in sich zu bekämpfen. Denn offensichtlich war es Cedrik, nach dem es ihr dürstete. Plötzlich spürte sie seine Hand auf ihrer liegen. Ihre Augenlider flogen wieder auf und sie stellte fest, dass er sich ihr unmerklich leise genähert hatte und nun direkt vor ihr stand. Sein Gesicht war ihrem ganz nah, als er sie ansah.
»Deine Gefühle sind natürlich. Ich habe dich erschaffen.« Seine Stimme klang viel zu zärtlich. »Alles an mir wird dich anziehen. Du lernst damit umzugehen. Und ich auch.«
War seine Stimme gar nicht zärtlich? War es nur das, was sie hörte, da sie seine Kreatur war?
Ein ungewollter Seufzer entglitt ihrem trockenen Hals. Der Lichtbringervampir strich ihr eine ihrer zerzausten hellblonden Haarsträhnen aus dem schmutzigen Gesicht, etwas Erde fiel von ihrem Scheitel herunter und landete auf ihrem Fuß.
Unendlich lange Sekunden sahen sie sich gegenseitig an. Sie vergaß alles andere um sich herum: den Schmerz, den Verlust, die Angst, die Verwirrung. Ihr totes Herz raste, während sie seinem Blick stand hielt. Ihr war, als wollte er sich zu ihr herunter beugen. Er war ihre Welt. Sie wollte nichts mehr als das.
Doch dann stand er plötzlich drei Schritte von ihr entfernt. Nur ein seichter Windhauch verriet, dass er sich mit übernatürlicher Geschwindigkeit von ihr gelöst hatte. Bevor sie den Verlust seiner Gegenwart betrauern konnte, wurde sie auf die etwas weiter entfernt wartenden Zuschauer aufmerksam.
Zwei Männer und eine Frau standen am Eingang des Friedhofs und beobachteten sie. Trotz der Distanz konnte Emma ihre Gesichter gut erkennen. Sie kamen ihr bekannt vor und doch waren sie fremd.
Cedrik folgte ihrem Blick und drehte sich zu ihnen um. Er nickte ihnen zu und die Personen näherten sich. Die junge Frau mit den langen schwarzen Haaren und den türkisfarbenen Augen betrachtete sie aufmerksam.
Sie wollte auf sie zukommen, doch der Lichtbringervampir an ihrer Seite hielt sie am Arm zurück, als wollte er nicht, dass sie Emma zu nahe kam. Emma kannte den Grund. Die Frau war die einzige nicht-Untote weit und breit und Emma hatte schrecklichen Blutdurst.
Cedrik stellte sich neben die Frau, als wollte er sie beschützen. Jetzt bemerkte Emma die Ähnlichkeit der beiden. Sie hatten die gleichen Augen.
»Hi Emma«, lächelte sie ihr nun entgegen.
Ihr Blick war so warm und liebevoll, als hätten sie sich einst etwas bedeutet. In einer anderen Welt.
»Emma, das sind Marie, Laurion und Angus«, stellte Cedrik vor.
Emma kämpfte mit sich. Es interessierte sie nicht, wer diese Leute waren. Wenn allerdings dieses Mädchen überleben wollte, sollten sie sie besser weit fort von hier schaffen. Sie spürte ein Jucken an der Stelle am Zahnfleisch, an der ihre Fänge ausgefahren waren. Cedrik und Laurion wechselten einen Blick miteinander. Nun erhob Laurion das Wort: »Du wirst mit Angus gehen.«
Emma starrte auf Maries Hals. Sie hörte ihr Herz am lautesten von allen schlagen. Der benannte Mann trat zwei Schritte auf Emma zu. Er war groß und hatte breite Schultern, machte einen bedrohlichen Eindruck.
»Aber…« Emma wollte fragen, weshalb sie nicht mit Cedrik gehen konnte.
Er hatte Tag und Nacht an ihrem Grab gewacht. Sie spürte ihn in sich, genauso wie er sie in sich spürte. Sie waren einander verbunden und jetzt sollten sie sich trennen?
»Es ist besser so«, pflichtete Cedrik nun Laurions Entscheidung bei.
Emma starrte diesen Laurion erbost an. Wie konnte er einfach so bestimmen was gut für sie war?
Plötzlich hörte sie Cedriks Stimme in ihrem Kopf: ›Wir sollten nicht zusammen sein!‹
Er hatte nicht gesprochen, er hatte ihr diese Gedanken einfach so in ihren Geist gesandt. Niemand sonst konnte wissen, was er ihr mitteilte, nur Emma und er.
»Pass gut auf sie auf«, sagte Marie leise an Angus gewandt.
Ihre Stimme klang wehmütig, ihr Blick war traurig. Angus nickte, während er seine Aufmerksamkeit weiter auf Emma lenkte. Er passte auf, dass sie diese Marie nicht angriff. Emma sah Marie kurz an und diese zwang sich zu einem aufmunternden Lächeln.
Emma konnte dem nichts abgewinnen. Sie wollte nicht zurück lächeln. Sie hasste sie. Marie würde mit Cedrik gehen, während sie bei diesem Angus bleiben sollte. Emma wollte Cedrik sagen, dass er sie nicht zurück lassen konnte. Sie wollte ihm ebenfalls ihre Gedanken senden, aber so sehr sie sich auch konzentrierte, es klappte nicht.
Stattdessen überkam sie ein furchtbarer Krampf, der von ihrem Magen ausging. Ein stechender Schmerz zog sich rauf bis in ihren Hals. Emma zuckte zusammen, dann wurde ihr schwindelig und sie krümmte sich vornüber.
Angus ging noch einen Schritt auf sie zu, doch sie riss sich zusammen und erhob sich wieder. Sie wollte vor Cedrik keine Schwäche zeigen. Als sie aufsah, war da nur noch Angus. Cedrik hatte mit Marie und Laurion das Gelände verlassen. Sie waren längst weg.
Verzweifelt sah Emma sich um, von ihnen war keine Spur. Nun spürte sie es in sich, dieses Gefühl, dass ihr Verbündeter sich entfernte. Sie wusste, dass es ihm genau so schwer fiel, wie ihr. Denn auch er wollte sie nicht zurücklassen. Aber warum tat er es dann?
Angus betrachtete sie ungeniert, mit kühler Miene. Seine graublauen Augen hafteten auf ihr, als wollte er sie verschlingen. Sein Blick war unbewegt. Er wusste alles über sie. Und sie wusste rein gar nichts.
Sie fühlte sich wie nackt vor diesem Mann. Er konnte in ihren Gedanken spazieren gehen, hörte was immer sie dachte. Sie konnte nichts dagegen tun. Er ließ sich nicht anmerken, ob er sich für ihre schlichten Gedankengänge interessierte. Stattdessen strich er sich eine Strähne seines dunkelblonden Zottelhaars mit einer menschlich langsamen Bewegung aus dem markanten Gesicht, um freie Sicht auf sie zu haben.
»Du solltest dich umziehen, so können wir nicht los«, sagte er schließlich.
Emmas Blick glitt an ihrem Körper herunter. Sie trug ein völlig verschmutztes Sommerkleidchen, das vor ihrer Beerdigung weiß gewesen war. Ihr rechter Träger baumelte abgerissen herunter und auf ihrer Brust befand sich vertrocknetes Blut. Ein roter Rinnsal war an ihrer rechten Körperhälfte heruntergelaufen. Als wäre sie von einem Vampir angefallen worden. Als hätte sie jemand töten wollen.
»Was ist mit mir passiert?«, fragte sie Angus und betrachtete ihren schmutzbedeckten Körper.
Ihre Fingernägel waren schwarz vor Dreck, ihre Arme und Beine ebenfalls.
»Eine nette Lagerfeuergeschichte, erzähl ich dir ein anderes Mal. Jetzt lass uns von hier verschwinden!« Angus sah sie auffordernd an. Er drehte sich um und marschierte den schmalen Weg Richtung Ausgang entlang.
Emma beobachtete wie sein muskulöser Körper mit der Dunkelheit nahezu verschmolz. Sie zögerte einen kurzen Moment, dann beschloss sie ihm zu folgen. Doch sie konnte nicht so mühelos mit ihm Schritt halten, wie sie es sich vorgestellt hatte.
Ihre Glieder schmerzten bei jeder Bewegung. Sie spürte jeden noch so kleinen Stein unter den Sohlen ihrer flachen Schuhe. Der Krampf in ihrem Magen ging mit einem Schub von vorne los. Er zog sich zusammen und sendete Stiche bis in ihre Kehle, die so trocken war, als wäre sie wochenlang durch die heißeste Wüste gelaufen. Emma musste einen Moment inne halten, damit der Schmerz sie nicht nieder riss. Angus warf einen kurzen Blick über seine Schulter, verlangsamte sein Tempo jedoch nicht. Emma versuchte ihre Wut über seine Gleichgültigkeit und den Schmerz in ihrer Kehle herunter zu schlucken.
Mit eisernem Willen richtete sie sich auf und ging weiter hinter ihm her. Nicht weit entfernt befand sich eine Mauer, die den Friedhof umgab. Das gusseiserne Tor war verschlossen. Angus wartete neben dem Tor auf sie. Der Friedhof musste direkt an einer Straße liegen, denn auf der anderen Seite der Mauer fuhr eine Straßenbahn vorbei. Emma überkam der Gedanke in die Straßenbahn einzudringen und jeden einzelnen Menschen darin auszusaugen.
»Du würdest es nicht mal allein über die Mauer schaffen in deinem Zustand und denkst schon an ein Massaker?«, schmunzelte Angus.
Sie wollte etwas gemeines erwidern, doch sie wusste, es war besser die Klappe zu halten. Zumindest vorerst. Feinfühligkeit war jedenfalls nicht seine Stärke. Plötzlich kam er auf sie zu, so dicht an sie heran, dass sie fast einen Schritt zurück gewichen wäre. Sie wollte ihm gegenüber nicht schwach wirken. Er starrte ihr mit ausdrucksloser Miene in die Augen.
Ein erneuter Krampf ließ ihren Körper erzittern. Sie kniff für einen kurzen Moment die Augen zusammen und versuchte tief durchzuatmen. Da spürte sie, wie sich sein Arm um ihre Hüfte legte. Überrascht schlug sie die Augen wieder auf und starrte ihn an. Sein Blick lag noch immer auf ihr. Dann verlor sie den Halt unter ihren Füßen. Er hielt sie in seinem Arm, während er sich mit ihr an der Seite in die Luft erhob und sanft über die Friedhofsmauer schwebte. Ängstlich schlang sie die Arme um seinen Hals und hielt sich an ihm fest. Dann war es auch schon wieder vorbei.
Angus landete gemächlich auf der anderen Seite der Mauer und ließ sie zu Boden. Emma hielt sich einen Moment länger als nötig an ihm fest. Er räusperte sich und sie erwachte aus ihrer Starre, befreite ihn aus dem Klammergriff. Ihr war, als sähe sie den Anflug eines Lächelns auf seinen Lippen.
»Sorry«, sagte sie und es war ihr etwas peinlich, dass sie sich so sehr an ihm festgekrallt hatte.
»Angsthase«, erwiderte er schmunzelnd und ging auf einen Wagen zu.
Er betätigte mit seinem Schlüssel die Zentralverriegelung eines schwarzen Audi R8 Coupe und öffnete den Kofferraum. Dort holte er eine dunkle Wolldecke heraus und machte die Beifahrertür auf.
Er legte die Decke auf den Sitz und drehte sich dann zu ihr um: »Schuhe aus!«
»Was? Ist das jetzt dein Ernst?« Emma konnte es nicht glauben.
Angus verschränkte die Arme.
»Diese Verbindung, die du zu Cedrik hast – genauso ist es mit meinem Wagen und mir«, erklärte er ihr.
Emma hob ihre Augenbrauen und sah ihn ungläubig an. Dieser Typ hatte eindeutig eine Macke.
»Schuhe aus!«, wiederholte er.
Sie schüttelte den Kopf und tat, was er von ihr verlangte. Sie hielt ihm schließlich ihre verschmutzten Segelschuhe entgegen. Angus blickte auf die Schuhe, die ihr im selben Moment wie von Geisterhand weggerissen wurden. Mit Kraft seines Willens landeten die Schuhe in einer nahegelegenen Mülltonne. Emma sah ihn erstaunt an. Angus bedeutete ihr mit dem Kopf im Wagen Platz zu nehmen. Sie pirschte barfuß über den Gehweg zur Beifahrerseite und glitt auf den, in die Decke eingehüllten, Sitz. Dann schloss Angus die Tür und keine Sekunde später stieg er auf der Fahrerseite ein. Emma dachte an Cedrik, als Angus den Wagen anließ. Sie dachte daran, dass sie sich nun noch weiter von ihm entfernte. In die entgegengesetzte Richtung. Angus trat das Gaspedal durch und das Motorengeräusch dröhnte durch die menschenleeren Straßen der Stadt.
»Vergiss ihn«, knurrte er.
»Kann ich das denn?«, fragte sie mit einem Kloß im Hals zurück.
Sie blinzelte, da das Licht der Straßenlaternen sie blendete.
»Du gewöhnst dich daran«, antwortete er und ihr war nicht ganz klar ob sie damit Cedrik oder das gleißende Licht meinte.

Ende der Leseprobe

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