(Lesezeit etwa 17 Minuten)

Kapitel 1 – Der Neue
Behutsam drehte Sina den Schlüssel im Schloss und öffnete die Haustür. Sofort hörte sie das Knurren aus dem Körbchen, neben der Wohnzimmertür. Chihuahua-Hund Sunny hob den Kopf und betrachtete sie mit gespitzten Ohren.
»Psst – sei still Sunny«, flüsterte sie und betrat das Haus.
Sie versuchte, die Tür lautlos zu schließen und schlich auf die Treppe zu. Das Murren verstärkte sich, als sie an dem Haustier vorbeiging.
Sina beugte sich zu dem Vierbeiner herunter und sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an: »Halt die Klappe, du Biest!«
Der Chiwawa senkte den Kopf und legte ihn mit einem letzten, kaum wahrnehmbaren Grollen auf den Pfoten ab. Sina schlüpfte aus ihren Schuhen und tapste den Aufgang in den ersten Stock hinauf. Die zwei knarrenden Stufen ließ sie aus. Oben angekommen, steuerte sie zielstrebig ihre Zimmertür an. Gerade wollte sie hinein, als das Licht im Korridor anging. Erschrocken fuhr sie herum und starrte in das Gesicht ihrer Zwillingsschwester.
»Was treibst du hier, mitten in der Nacht?«, fragte Melina.
Ihre Stimme war derart laut, dass sie Tote erwecken konnte und höchstwahrscheinlich auch ihre Mutter.
»Ich gehe ins Bett«, antwortete Sina leise und ging in ihr Zimmer.
Wie erwartet folgte Melina ihr.
»Wo warst du?«, wollte sie, im Tonfall eines Feldmarschalls, wissen.
Genervt zog die Erwischte sie in den Raum und schloss die Tür.
»Ist das nötig, Mama aufzuwecken?«, zischte sie ihre Schwester an.
»Kommt drauf an. Sie findet es bestimmt lustig, zu erfahren, dass du dich heimlich rausgeschlichen hast, um mit deinen Freunden in deinen Geburstag reinzufeiern!« Melina sah sie provozierend an.
»Du hättest ja mitkommen können«, erwiderte Sina unberührt und betrachtete sich im Spiegel.
Es war spät, sie sah mittlerweile ziemlich zerzaust aus.
»Was machst du da? Es ist stockdunkel!« Melina knipste den Lichtschalter an.
Irritiert sah Sina sie an. Ihr war nicht aufgefallen, dass die Lampe aus war. Im Spiegelbild sah sie sich klar und deutlich. Schien der Mond heute Nacht durch das Fenster?
»Sag mal, hast du was getrunken?« Ihre Schwester kam zu ihr und schnupperte theatralisch.
»Lass das!«, Sina stieß sie von sich und zog ihre Jacke aus.
»Du riechst wie ein Bierfass!«, stellte Melina fest.
»Und wenn schon, ich werde nur einmal sechzehn.«
»Ich auch, haue ich deshalb nachts ab und gehe auf Sauftour?«
»Vielleicht würdest du ja, wenn du Freunde hättest!« Sina bereute es im gleichen Atemzug, in dem sie es aussprach.
Melinas Freundeskreis hatte sich nahezu in Luft aufgelöst, nachdem ihr Boyfriend vor ein paar Wochen mit ihrer besten Freundin fremdgegangen war. Den Kummer hätte sie ihrer Schwester gerne erspart, auch wenn sie fast immer die fiese Zicke mimte.
Für einen kurzen Augenblick glaubte sie, etwas Rotes um ihren Körper aufflackern zu sehen. Befremdet kniff Sina ihre Augen zusammen und öffnete sie wieder. Das Flackern war weg, aber sie sah nur noch Melinas Kehrseite. Ihre Schwester verließ gekränkt das Zimmer und knallte die Tür hinter sich ins Schloss. Sina verzog das Gesicht und lauschte. Ihre Mutter schien davon nicht aufgewacht zu sein. Sie hörte Melina nach nebenan stampfen und sich ins Bett werfen. Merkwürdig, dass sie für einen Moment das Gefühl hatte, sie würde ihr Bettzeug rascheln hören. Alkohol vertrug sie wirklich nicht viel. Es wurde Zeit, dass sie ebenfalls zur Ruhe kam. Sie schaltete das blendende Licht aus und fühlte sich sofort erheblich wohler. Der Raum kam ihr dennoch taghell vor. Sina ging verwundert ans Fenster und schaute hinaus. Der Himmel war dunkel und bewölkt. Nicht ein Stern funkelte am Firmament, ganz zu schweigen von dem Mond.
»Okay, ich rühre definitiv kein Bier mehr an«, beschloss sie flüsternd und ließ sich erschöpft in ihr Bett fallen.
»Was hast du gesagt?«, rief Melina.
Sina stöhnte: »Schlaf jetzt!«
»Dann schrei nicht so rum!«
Die Müdigkeit hielt sie davon ab, darauf einzugehen. Einen herzhaften Gähner später, sank sie in einen traumlosen Schlummer.
***
»Komm schon, den Bus kriegen wir!«, rief Melina und rannte los.
Sina stöhnte genervt. Ihr Hals brannte, sie fühlte sich unwohl und das Tageslicht löste bei ihr momentan einen unangenehmen Kopfschmerz aus. Für das Fliegengewicht von Schwesterherz war es kein Problem die zwanzig Meter bis zur Haltestelle zu flitzen. Sina hatte einige Kilos mehr drauf, sie war schon außer Atem, sobald sie eilig zu Fuß ging. Wenn sie bis zur Busstation rannte – abgesehen davon, dass sie es in ihrem körperlichen Zustand heute unmöglich schaffen konnte – würde sie im Bus japsen, als erleide sie einen schweren Asthmaanfall. Melina war nahezu an der Bushaltestelle angelangt, als sie bemerkte, dass ihre Schwester ihr nur im schnellen Schritt folgte.
»Jetzt beweg dich, Fettklops!«, schimpfte sie beim Weiterlaufen.
Die letzten Schüler drängten sich in den Bus, als Melina ankam. Erneut drehte sie sich zu ihrer Schwester um, die gerade die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte. Ihre Kondition ging den Bach runter.
»Warten Sie bitte«, forderte sie den Busfahrer auf und stellte einen Fuß auf das Einstiegstreppchen.
»Entweder rein oder raus!«, meckerte der Fahrer sie mürrisch an.
»Rein!« Melina bewegte sich nicht von der Stelle.
Endlich erreichte Sina den Bus und ihre Schwester zog sie mit sich hinein.Völlig aus der Puste schnappte sie nach Luft, wobei sie unauffällig einen festen Halt an einer der Stangen suchte. Die Jugendliche spürte, dass die anderen Fahrgäste sie anstarrten. Heute waren ihr die verurteilenden Blicke fast egal. Das Brennen in ihrem Hals wurde nahezu unerträglich und nachdem sie einige Meter gerannt war, hatte sie nur noch den Wunsch literweise Wasser zu trinken. Die vielen vermischten Gerüche im Bus penetrierten sie wie nie zuvor. Das seichte Licht des angebrochenen Tages brannte ihr jetzt schon in den Augen. Sie hatte einen riesen Kater. Genau konnte sie es nicht einschätzen, da es ihr Erster war. Normalerweise würde sie einen Seitenhieb von ihrer Schwester erhalten, mit der Aussage, dass sie endlich abnehmen sollte. Die schien im Moment ebenfalls mit sich beschäftigt zu sein. Gedankenverloren fixierte sie einen Punkt an der Decke.
»Hey Sina«, grüßte sie jemand.
Sie entdeckte ihre Klassenkameradin auf einem der Sitzplätze neben sich. »Hi Julia. Hab dich nicht gesehen.«
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!« Julia stand auf, um Sina kurz zu umarmen, und setzte sich dann wieder.
»Dankeschön«, lächelte sie verlegen.
»Sorry, ich durfte nicht kommen. Hab Hausarrest wegen der verhauenen Mathe-Ex.«
»Weiß ich doch«, winkte Sina ab und bemerkte die Schweißperlen auf ihrer Stirn.
Es war Winter und sie schwitzte, weil sie ein paar Meter gerannt war. Wie peinlich!
Sie wischte sich mit dem Handrücken darüber und räusperte sich betreten, da sie sich von Julia beobachtet fühlte.
»Fühlst du dich nicht wohl?«, fragte die Klassenkameradin besorgt.
»Nur ein bisschen zu viel getrunken gestern«, antwortete Sina leise.
Der Bus hielt an einer Haltestelle und sie sah, dass ihre Schwester zur hinteren Tür ging. Melina atmete dort ein paar Mal durch, nachdem die Tür sich öffnete. Sina beobachtete sie und als Melina in ihre Richtung sah, wartete sie darauf, ob sie etwas sagen würde. Sie drehte ihr aber den Rücken zu und lehnte sich an eine der Haltestangen.
»Ist Melina dabei gewesen?«, erkundigte Julia sich.
»Nein«, murmelte Sina und kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit an.
Am nächsten Stop strömten die Zwillinge mit den übrigen Schülern aus dem Bus und auf das Schulgebäude zu. Sina musste sich beeilen, um sich zwischen den anderen hindurchzudrängen und Melina einzuholen.
Sie zog sie am Arm zurück: »Ist alles in Ordnung?«
»Mir ist schwindelig. Keine Ahnung, was mit mir los ist.« Melinas schmales Gesicht wirkte blass.
Sina zog eine Wasserflasche aus ihrer Umhängetasche und reichte sie ihrer Schwester: »Trink mal was!«
Melina schob die Flasche mit dem Arm von sich. »Nein, davon wird mir schlecht. Mir ist sowieso schon flau im Magen.«
Sina erging es nicht anders. Die Fahrt zur Schule dauerte zwar nur ein paar Minuten mit dem Bus, dennoch war ihr von dem Geschaukel speiübel.
»Mir auch, vielleicht haben wir uns einen Virus eingefangen«, sagte sie und überlegte trotzdem etwas zu trinken.
Sie hatte so einen schrecklichen Durst.
»Ich vielleicht. Du hast einfach ein Bier zu viel gezischt!« Melina warf ihrer Schwester einen zickigen Blick zu und ließ sie damit stehen.
Sie verschwand binnen zwei Sekunden in einer Menschentraube von Schülern. Sina betrat das überfüllte Schulgebäude und schlängelte sich durch die Massen bis zu ihrem Klassenzimmer durch. An Tagen wie diesen, war sie froh, dass sie und Melina nicht in die gleiche Klasse gingen. Aufgrund dessen hatten sie wenigstens ein paar Stunden Ruhe voreinander.
»Hey Geburtstagskind, guten Morgen«, begrüßte sie Nele im Klassenraum.
»Hi.« Sina ließ sich von ihr einen Kuss auf die Wange geben.
Der Lehrer schob sie von der Tür weg und bevor sie in eine Unterhaltung über den gestrigen Abend verfallen konnten, begann er die Schulklasse zu begrüßen. Sina war froh darüber, dass sie vorerst keinen Small Talk führen musste, und ließ sich erschöpft auf dem Stuhl an ihrem Platz sinken. Sie hatte das Gefühl schon wieder zu schwitzen und strich sich mit dem Ärmel ihrer Strickjacke über die Stirn. Der Sitzplatz ihrer Tischnachbarin war noch frei, was nicht verwunderlich war. Sie kam meist als Letzte zum Unterricht.
Herr Martin, ihr Klassenlehrer, zog die Aufmerksamkeit auf sich: »Wenn ihr dann alle mal ruhig seid, stelle ich euch gern euren neuen Mitschüler Lukas vor.«
Genau wie der Rest der Klasse blickte Sina neugierig nach vorn. Neben dem Lehrer stand der Neue und schaute selbstbewusst in die Reihen. Ein gutaussehender Typ, stilsicher gekleidet, mit einer geraden Haltung. Er war zwar nicht besonders groß, aber seine aufmerksamen grünen Augen, umrandet von Sommersprossen, machten diesen Makel wett. Sein modischer Kurzhaarschnitt wirkte gepflegt, bestimmt verbrachte er am Morgen mehr Zeit im Bad, als Sina, um seine braunen Haarsträhnen zurecht zu zupfen. Eines war klar – er würde sicher der neue Klassenschwarm werden. Schon verfielen die Mädchen in Getuschel. Die Tür ging auf und Sinas Sitznachbarin Jessica kam herein. Interessiert beäugte sie Lukas von hinten, da er ihr den Weg versperrte.
»Setz dich einfach da hin, wo Platz ist«, forderte Herr Martin den Neuen auf.
Lukas ging durch die Tischreihen und Jessica war ihm dicht auf den Fersen. Sina begann ihre Schreibutensilien auszupacken. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass er direkt neben ihr stehen blieb. Da er sich nicht weiter vorwärts bewegte, sah sie vorsichtig zu ihm auf.
»Ist hier noch frei?«, fragte er und deutete auf Jessicas Stuhl.
Verdutzt sah sie ihn an. Neben ihr befand sich ein komplett freier Tisch, zwei Reihen hinter ihr gab es ebenfalls freie Einzelplätze.
»Nein, da sitze ich!«, funkte Jessica dazwischen und quetschte sich an ihm vorbei, um zu ihrem Platz zu gelangen.
Sina lächelte gequält, aber er erwiderte ihr Lächeln nicht. Stattdessen blieb er eine Sekunde zu lange unbewegt stehen und sah sie an. Ein unangenehmes Gefühl überkam sie. Nervös steckte sie eine ihrer dicken braunen Locken hinters Ohr und begann in ihrer Tasche zu wühlen. Das Brennen in ihrem Hals drängte sich zurück in ihr Bewusstsein, schlimmer war jedoch sein bohrender Blick. Endlich drehte er sich um und nahm am Tisch hinter ihr Platz. Herr Martin schrieb an die Tafel, wobei das Kratzen der Kreide ein furchtbares Quietschen verursachte. Sina hatte das noch nie gestört, aber heute war sie nicht fähig, es zu ertragen. Während ihre Klassenkameraden tuschelten, kämpfte sie mit sich, sich nicht die Ohren zuhalten zu müssen. Ihr war, als konnte sie die Buchstaben, die ihr Lehrer schrieb, allein am Geräusch erkennen.
»Nicht gut drauf, heute?«, fragte Jessica, die Sina eine Weile beobachtet hatte.
Sie schüttelte den Kopf, ihr fiel es schwer, zu sprechen. Sie sah um den Klassenlehrer ein transparentes Flirren und rieb sich die Augen.
»Der Neue ist wirklich heiß«, hörte sie Jessica kichern.
»Was?« Sina starrte ihre Sitznachbarin an.
Sie konnte doch nicht unmittelbar vor ihm so etwas sagen.
»Ich hab nichts gesagt!« Jessica lachte kurz und blätterte in einem ihrer Hefte.
»Ich hoffe, er ist nicht auch so ein Playboy, wie die anderen«, sagte eine weibliche Stimme.
Sina hätte schwören können, dass es direkt neben ihr jemand aussprach. Wenn Jessica nicht unter die Bauchredner gegangen war, dann konnte sie sie ausschließen. Am Tisch hinter ihnen saßen Lukas und ein männlicher Klassenkamerad, am Tisch nebenan ebenfalls Jungs. Zwei Mädchen aus der ersten Reihe gafften sie an. Nervös überprüfte Sina, ob sie wieder transpirierte. Bis ihr klar wurde, dass sie zu Lukas sahen.
»In der Pause spreche ich ihn an«, meinte eine von beiden.
»Mich würde interessieren, was die zu flüstern haben«, grummelte Jessica mit gesenktem Tonfall und deutete mit den Augen nach vorn.
»Hast du das auch gehört?«, erkundigte Sina sich.
»Was denn gehört?«
»Was sie über den Neuen gesagt haben.« Sina flüsterte, damit er es nicht mitbekam.
Trotzdem hatte sie das Gefühl, er würde sie unentwegt anstarren.
Jessica lachte. »Bin ich Superman? Hast du es etwa gehört?«
Sina spürte, dass sie rot anlief und schüttelte den Kopf. Herr Martin begann mit dem Unterricht und die Gespräche verstummten. Mit aller Kraft versuchte sie zu folgen, aber selbst ihr Lieblingsfach Englisch lenkte sie nicht von ihren körperlichen Wehwehchen ab. Sie quälte sich durch eine Doppelstunde, kämpfte gegen Magenkrämpfe und Übelkeit.
Erleichtert stopfte Sina ihre Sachen in die Tasche, als es endlich zur erlösenden Pause klingelte. Zügig machte sie, dass sie rauskam. Sie wusste nicht, wie lange sie das Gefühl, sich übergeben zu müssen, zurückhalten konnte und suchte vorsichtshalber die Toiletten auf. Im Vorraum blieb sie vor einem der Waschbecken stehen und drehte den Wasserhahn auf. Sina ließ das kalte Wasser über ihre Handgelenke laufen und atmete tief durch. Der Gestank in dem Raum war ihr noch nie so bestialisch vorgekommen, wie heute. Sie war froh, dass endlich die Tür hinter ihr zufiel und sie von dem ohrenbetäubenden Lärm der Schüler abschirmte. Ein Würgen ertönte. Irgendjemand übergab sich in eine der Toilettenkabinen. Vielleicht ging doch ein Virus um. Sina trocknete sich die Hände an ihrer Jeans ab und trat zwischen die Kabinen entlang, bis sie die Schuhsohlen einer Person unter einer der Türen sehen konnte. Sohlen, die ihr sehr bekannt vorkamen.
»Melina?«, fragte sie.
»Ja.«
»Alles okay?«
»Hört sich das an, als ob alles okay ist?« Melina stand auf und drückte die Toilettenspülung.
Sie öffnete sie die Tür und kam aus der Kabine. Sie sah krank aus. Sina folgte ihr in den Waschraum und zog mehrere Papiertücher aus dem Handtuchspender, während Melina ihren Mund ausspülte.
Sie reichte ihr die Tücher: »Wir sollten nach Hause gehen.«
Melina nickte und trocknete sich das Gesicht ab. Im gleichen Moment wurde die Tür aufgestoßen und zwei Mädchen eilten herein. Sie redeten aufgeregt durcheinander und belagerten den Waschtisch neben Melina. Eine der beiden blutete aus der Nase. Es tropfte in das Waschbecken und innerhalb von Sekunden wurde alles rot.
Sina spürte einen stechenden Krampf in ihrem Magen und hatte Mühe sich nicht zusammen zu krümmen. Das Gefühl, tausend Dinge gleichzeitig zu riechen, erfasste sie. Den ekelhaften Gestank aus jeder einzelnen Toilette, den Schweiß der Schülerinnen, das penetrante Parfum ihrer Schwester, ihr Atem, der nach Erbrochenem roch. Irgendetwas anderes, würzig Süßliches lag in der Luft, sie konnte es aber nicht zuordnen.
»Ist das ekelig! Lass uns abhauen, bevor ich mich nochmal übergeben muss!« Melina drehte sich angewidert von den Kids weg und ging zur Tür.
Feuer brannte in Sinas Hals, sie schluckte. Im Begriff ihrer Schwester zu folgen, drehte sie sich zur Tür und streifte den Spiegel mit einem Blick. Das Spiegelbild ihrer Augen ließ sie erstarren. Sie waren nicht braun, sondern hell leuchtend, wie glühende Kohlen. Reflexartig kniff sie ihre Augen zusammen und rieb darüber. Vor Aufregung hielt sie den Atem an. Nach ein paar Sekunden öffnete Sina sie und betrachtete die Spiegelung. Alles normal. Sie sah zu den zwei Mädchen, die mit dem Nasenbluten beschäftigt waren und nichts mitbekamen. Melina lief längst den Korridor entlang. Zitternd atmete Sina aus und folgte ihr. Sie wollte mit ihr ins Sekretariat, doch bereits nach wenigen Schritten verschwand die blond gesträhnte Haarpracht ihrer Zwillingsschwester in der Menschenmenge. Schüler drängten über den Flur, unterhielten sich viel zu laut und lachten verrückt. Alles drehte sich, Sina wurde mehrmals hintereinander angerempelt. Abermals brach ihr der Schweiß aus, während sie Halt an der Wand suchte. Sie hatte das Gefühl keine Luft zu bekommen. Ihr Magen stellte sich auf den Kopf und der Geruch aus der Mädchentoilette verfolgte sie. Der Speichel floss in ihrem Mund zusammen, als hätte sie eine Zitrone aufgeschnitten. Ihr Zahnfleisch begann zu jucken. Sina blieb stehen und atmete ein paar Mal tief durch. Jedes kleinste Geräusch drang zu ihr vor. Ein Junge verlor einen Stapel Blätter, sie hörte das lose Papier geräuschvoll zu Boden segeln. Ein Pärchen am anderen Ende des Ganges küsste sich und das Schmatzen ihrer aufeinandertreffenden Lippen schien unerträglich laut. Tausende Gesprächsfetzen prasselten auf sie ein, verschwammen in ihrem Verstand zu einem Einheitsbrei. Sie schloss die Augen und versuchte sich zu beruhigen. Ihre Atmung ging viel zu schnell und irgendetwas drängte sie zurück in die Toilette zu gehen. Plötzlich berührte sie jemand am Arm. Erschrocken flogen ihre Lider auf. Sie starrte in das Gesicht des Neuen. Für einen Augenblick fiel ihr sein Name nicht ein.
»Alles in Ordnung?«, fragte er und sah ihr besorgt in die Augen.
Sina blinzelte. Ihr Blick war so scharf, dass sie die Poren in seinem Gesicht zählen konnte. Jedes einzelne, feine Härchen seines Haaransatzes schimmerte goldbraun. Die verblassten Sommersprossen um seine Nase und auf den Wangen erzählten ein Sommermärchen.
›Sie kann keine von ihnen sein, es ist helllichter Tag‹, hörte sie ihn, obwohl sich seine Lippen nicht bewegten.
»Was?«, fragte sie und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Ihr war heiß, die Hitze wallte in ihrem Körper auf und ab. Um ihn herum begann etwas Dunkelgrünes zu flimmern. Sina streckte die Fingerspitzen danach aus und versuchte es zu greifen. Wie ein transparenter Schleier quoll es an ihrer Hand vorüber, ging in kleinen Fäden durch ihre Finger hindurch. Langsam zog sie ihre Hand zurück und aus dem Farbenspiel hinaus. Eine flimmernde Silhouette umgab ihn und zog sich über seinem Kopf zu einer flackernden Spitze zusammen.
»Was ist das?«, wollte sie wissen.
Er sah an seinem Arm herunter: »Was ist was?«
Sina winkte ab, da ein aggressiver Krampf in ihrem Magen entstand.
›Was ist mit deinen Augen?‹, hörte sie ihn fragen.
Sina sah ihn erschrocken an. Glühten sie etwa wieder? Wie vorhin in der Toilette?
»Nichts. Das ist gleich vorbei!«
»Ich habe nichts gesagt.« Skeptisch sah er sie an.
Lukas, sein Name war Lukas!
»Mir geht es nicht gut. Ich will nur nach Hause.«
»Noch nichts gefrühstückt?«
Sie schüttelte den Kopf: »Ich weiß, unglaublich wenn man mich so sieht – aber mir ist heute Morgen echt nicht nach Essen zu Mute!«
Er betrachtete sie ungeniert von oben bis unten. Zumindest aus Höflichkeit könnte er über ihren Witz lächeln.
›Wer hat dich erschaffen?‹, fragte er sie mit geschlossenem Lippen.
Der Typ wurde ihr allmählich unheimlich. Einige Meter entfernt, öffnete sich die Tür der Mädchentoilette. Sie musste sich nicht umdrehen, der hinaus strömende Geruch verriet es. Sie verzog ihr Gesicht und hielt den Atem an, dann gingen die Mädchen an ihr vorbei. Die Kleinere presste ein Taschentuch gegen die Nase, die Größere plapperte ohne Punkt und Komma auf sie ein. Das blutgetränkte Papiertuch entfaltete einen würzig süßen Duft. Abermals schoss Sina der Speichel in den Mund. Ihr oberes Zahnfleisch schwoll drückend an, sie bekam Angst. Eilig drehte sie sich auf dem Absatz um und lief in die Toilette. Keuchend kam sie vor dem Waschbecken zum Stehen und starrte in den Spiegel. Ihre Augen reflektierten das Licht wie Scheinwerfer. Ihre Oberlippe schien angeschwollen, als sie diese leicht nach oben bewegte, sah sie des Übels Wurzel. Ihre Eckzähne hatten sich verlängert, als wären sie urplötzlich um das Doppelte gewachsen.
Wie war das möglich?
Sie konnte kaum atmen, befühlte mit dem Zeigefinger einen der Zähne und schnitt sich die Haut daran auf. Etwas Blut tropfte aus ihrem Finger. Ihr schossen die Tränen in die Augen und sie versuchte verzweifelt die Fassung zu bewahren. Die Tür öffnete sich erneut und jemand kam herein. Sina ließ blitzschnell die Augenlider sinken. Sie gab keinen Mucks von sich, während sie vortäuschte in ihrer Umhängetasche zu wühlen. Sie hörte die Schritte hinter sich, wartete darauf, dass das Mädchen an ihr vorbei und in eine der Toilettenkabine ging. Stattdessen wurde sie am Arm gepackt und herumgerissen. Im gleichen Moment, als sie Lukas ansah, stieß er sie mit voller Wucht rücklings an die Wand und drückte ihr den Unterarm gegen den Hals. Verängstigt starrte sie ihn an.
»Wer hat dich erschaffen?«, wiederholte er die Frage zischend.
»Was?! Lass mich in Ruhe!« Sina war außer sich.
Tränen liefen ihre Wangen herunter. Lukas sah sie verwundert an.
Er ließ von ihr ab und trat einen Schritt zurück: »Warum heulst du denn jetzt?«
»Du hast echt eine Macke! Bleib weg von mir!« Sie drängte sich an ihm vorbei und verließ die Mädchentoilette.
Sie wollte auf der Stelle hier weg. Ohne weiter an ihre Schwester zu denken oder sich im Sekretariat abzumelden, machte sie sich auf den Weg zur Bushaltestelle.
***
Der Hund kläffte, als Sina zur Tür hereinkam.
»Still!«, schnauzte sie ihn an und warf ihm einen vernichtenden Blick zu.
Sunny verzog sich ins Wohnzimmer und gab keinen Ton mehr von sich. Ein wiederholter Bauchkrampf durchzuckte sie und Sina krümmte sich.
Was war nur los mit ihr? Warum spielte ihr Körper heute verrückt?
Spätestens seitdem sie das letzte Mal ihr Spiegelbild gesehen hatte, war ihr klar, dass sie nicht an den Nachfolgen des nächtlichen Alkoholkonsums litt. Erschöpft hangelte sie sich die Treppe in den ersten Stock hinauf und ging ins Badezimmer. Sie schob mit den Fingern die Oberlippe hoch und betrachtete ihre Zähne. Die Schwellung war zurückgegangen, seit sie die Schule verlassen hatte. Aus Angst sich nochmal zu verletzten, hatte sie es nicht gewagt unterwegs ihr Gebiss zu befühlen. Nichts. Im Spiegel war nichts zu entdecken. Ihre Beißer befanden sich in ihrer natürlichen Form, keine zu Fängen gewachsenen Eckzähne.
»Wie ist das möglich?«, flüsterte sie und beäugte ihren Oberkiefer gründlich von allen Seiten.
Ihre Augen erschienen ebenfalls im Normalzustand. Wie eh und je – braun, langweilig, ein wenig zu klein für ihr rundliches Gesicht. Kein Feuer, keine glühenden Kohlen und keine katzenhafte Reflexion. Das fürchterliche Brennen in ihrem Hals war jedoch noch immer da. Sie knipste die Spiegellampe an, öffnete den Mund so weit sie konnte, und versuchte in ihren Rachen zu sehen. Es wirkte alles normal. Keine Rötungen oder Schwellungen. Langsam zweifelte sie an ihrem Verstand.
Das Klingeln an der Tür ließ sie erschrocken zusammen zucken. Der Hund bellte im Erdgeschoss drauf los. Sina schaltete die Lampe aus und überlegte, wer das sein konnte. Ihre Mutter war bis zum Nachmittag in der Arbeit und eine Paketlieferung erwarteten sie nicht. Sie checkte ein letztes Mal ihr Äußeres auf Abnormitäten und als sie sich für vorzeigbar befand, lief sie hinunter. Sunny stellte sein Kläffen ein und verzog sich ins Wohnzimmer, als sie sich der Haustür näherte. Neugierig riskierte Sina einen Blick durch den Türspion.
Lukas.
Was wollte er? Woher wusste er, wo sie wohnte? Er war doch vor ein paar Minuten noch in der Schule.
Sie überlegte, so zu tun, als wäre niemand zu Hause.
Da klopfte er gegen die Tür: »Sina?«
In der Hoffnung er würde wieder gehen, wartete sie stumm ab.
Lukas klopfte erneut: »Ich hab dich reingehen sehen.«
»Mist«, flüsterte sie und öffnete nun die Tür einen Spalt.
»Was machst du hier?«, fragte sie ihn.
Er betrachtete sie durch den zu kleinen Türspalt und kam einen Schritt näher. Instinktiv wollte Sina die Tür öffnen, entschied sich aber im letzten Moment, es bei dem Spalt zu belassen. Irgendwie jagte er ihr Angst ein, auch wenn er aussah, als konnte er kein Wässerchen trüben.
»Du wirktest ziemlich durcheinander. Ich wollte einfach nach dir sehen.«
»Und das soll ich dir jetzt glauben?«
»Du hast geheult«, erinnerte er sie.
»Und wenn schon«, gab sie zurück und versuchte keine Miene zu verziehen.
Sie hatte jetzt wirklich andere Probleme, als diesem Neuen ihr Herz auszuschütten.
»Also geht es dir besser?«, erkundigte Lukas sich.
»Ja, ein bisschen. Ich leg mich jetzt hin. Dann geht’s schon wieder.«
»Sicher?«, vergewisserte er sich.
Er war echt süß, aber sie hatte im Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Außerdem löste er den merkwürdigen Drang in ihr aus, wegzulaufen.
»Hör zu, Lukas. Ich weiß zwar nicht, was du von mir willst. Aber was immer es ist, vergiss es ganz schnell wieder. Ich fühle mich geehrt, dass du mich stalkst. Wir wissen beide, dass ich nicht der Typ Mädchen bin, dem Jungs nach Hause folgen.«
Lukas lächelte verhalten: »Du solltest an deinem Selbstbewusstsein arbeiten.«
»Entschuldige mich, ich will jetzt ins Bett«, erwiderte sie unberührt und wollte die Tür schließen.
Lukas hinderte sie daran, indem er die Hand gegen die Tür stemmte. »Ich wollte dir nicht zu nahe treten. Ich war einfach nur neugierig, das ist alles.«
»Neugierig auf was?«
Er sah sie einen Moment nachdenklich an, dann winkte er ab: »Vergiss es!«
Lukas drehte sich um und ging. Sina sah ihm nach, bis er ihren Vorgarten verließ und die Straße entlang schlenderte.
Dieser Typ ergab für sie keinen Sinn. Irgendetwas in ihr stand jedoch in höchster Alarmbereitschaft, was ihn betraf. Sie traute seiner harmlosen Fürsorge nicht über den Weg.

Ende der Leseprobe

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